WELTENTOR 2013 - Fantasy (German Edition)
durch die Menge.
Einige der Zuschauer reckten die Hände in die Luft und zeigten mit weit aufgerissenen Augen in den Himmel.
Aurora richtete sich auf, als die Tempelmutter aufgeregt auf sie zukam.
„ Er ist hier! Bereite dich vor, Kindchen!” rief sie, sichtlich um Beherr-schung bemüht. Sie griff nach Auroras Hand.
Aurora folgte ihrem Blick und erstarrte.
Aus einer riesigen Wolke konnte man die ersten spitzen Türmchen eines filigranen Schlosses ausmachen, das völlig schwerelos über den Köpfen der Menschenmenge schwebte.
Immer mehr Details traten zut age, Engelsfiguren auf den Zinnen und hässliche Wasserspeier, Buntglasfenster und überall im Wind flatternde Fähnchen. Auroras Kehle war wie zugeschnürt.
Genau so hatte sie sich das Schloss in ihren Kinderträumen vorgestellt. Tausend Schmetterlinge flatterten durch Auroras Magen, als der erste Windstoß ihr Kleid erfasste und an dem schweren Stoff zerrte.
Einzelne Strähnen ihrer langen, schwarzen Haare lösten sich aus der aufwendig hochgesteckten Frisur und fielen ihr wild in das blasse G esicht. Sie konnte den Blick nicht von den Wolken und dem Schloss wenden.
Den Jubel der Menschen nahm sie nur noch am Rande ihres Bewusst -seins wahr. Dieser Palast würde also in Zukunft ihr Heim und gleich-zeitig ihr Gefängnis werden.
Der Wind wurde stärker, je weiter sich das Schloss aus den Wolken schob. Es fühlte sich an, als würden riesige Hände nach Aurora tasten, an ihren Röcken zupfen und ihr Haar durchwühlen.
Plötzlich spürte Aurora eine wilde Leidenschaft durch ihre Adern pulsieren. Sie wünschte sich einen Sturm, der sie von diesem Ort und all den fremden Menschen, die nichts von ihren Wünschen ahnten, fortbringen würde.
Als hätte der Windkönig ihre Gedanken gelesen, erfasste eine Windböe Auroras Kleid und hob die junge Frau langsam in die Luft. Die Finger der alten Tempelmutter entglitten ihrem Griff und sie warf einen let zten Blick auf die Frau, die sie die letzten Jahre so liebevoll begleitet hatte.
Aurora fühlte sich schwerelos und streckte, unter lautem Jubel der Menschen, das Gesicht in den Wind. Sie hob den Blumenstrauß in die Höhe und als sich ihre Finger von den Stängeln lösten, schwebte der Strauß einen Augenblick vor ihr, bevor er langsam, von Aurora gefolgt, immer höher stieg.
Die ersten Regentropfen merkte Aurora zuerst gar nicht. Sie war ge -fangen von einem Gefühl der Schwerelosigkeit. Sie hatte nicht erwartet, dass sich fliegen so anfühlen würde.
Der Wind schloss sie in sich ein, ließ sie mal nach links, mal nach rechts schweben. Aurora bildete eine Einheit mit dem stetigen Strom, der sie langsam immer näher an das Schloss herantrug. Es war wie ein Tanz durch das Nichts.
Erst, als der Wind einen Tropfen direkt in ihr Gesicht peitschte, öffnete sie die Augen. Es waren dicke, schwere Tropfen, die vereinzelt aus den Wolken fielen. Und bevor sie wusste, wie ihr geschah, hörte sie seine Stimme:
Wir haben uns lange nicht gesehen, Sturmkind.
Wie schon früher, erreichte die Stimme nicht Auroras Ohren, sondern drang als tiefes Grollen in ihr Bewusstsein. Wie Donner in einer stür-mischen Gewitternacht. Kein Vorwurf schwang in seinen Worten mit. Dabei wünschte sich Aurora, er würde ihr Vorwürfe machen.
Einer plötzlichen Eingebung folgend flehte sie: „Nimm mich mit!”
Der Regen wurde heftiger. Unter sich konnte sie die Priester sehen, die wild gestikulierten. Sie ahnten, dass etwas nicht stimmte. Es sollte nicht regnen.
Deine Bestimmung ist nicht bei mir, Sturmkind!
Aurora schluchzte leise. Sie wusste, dass ihr alter Freund Recht hatte. Plötzlich war die wühlende Sehnsucht wieder da. Sie hatte ihn so lange vermisst.
Als wollte er sie bestätigen, riss ein Schauer den stetigen Windstoß entzwei und zog sie mit sich. Aurora taumelte. Für einen Augenblick verlor sie das Gleichgewicht und stürzte mehrere Meter in die Tiefe, ehe der stetige Strom des Windes sie wieder auffing.
„ Du kannst mich ihm nicht einfach überlassen!”, rief sie gegen den Regen an. „Ich kenne Avave nicht! Ich will nicht bei ihm sein!”
Der Regen wurde ein wenig wärmer und schlug ihr nicht mehr erbar -mungslos ins Gesicht, sondern plätscherte über ihren, inzwischen völlig durchnässten Leib.
Aurora begann, gegen ihren Willen zu zittern.
Hilfesuchend wand sie den Blick Richtung Erde. Dort stand die Tem-pelmutter außerhalb ihrer Hörweite und starrte mit bangem Blick zu ihr hinauf. Auch ihre graue Kutte, die
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