WELTENTOR 2013 - Fantasy (German Edition)
Kreischend flohen die Studenten, verfolgt von dem Tier, dessen Sprünge den Turm beben ließen. Kraten seufzte, nostalgisch berührt. Zu seiner Zeit war alles viel schwerer und gleichzeitig so einfach gewesen. Damals, im steten Kampf ums Überleben, zählten die Tat und das Können und nicht Herkunft und Titel. Er blickte zum Schloss hinüber, das mit seinem neuen Westflügel die Gilde als größtes Gebäude der Stadt abgelöst hatte. Wenn König Otwin nun morgens aufstand und auf den Balkon trat, blickte er gleichsam auf Kraten herab. Das war nicht die Natur der Dinge, wie Kraten sie verstand.
Magie näherte sich, er erkannte sie sofort als seine eigene. Kraten legte die Pfeife beiseite. Eine geflügelte Schlange flatterte durch das Turm -fenster herein. Ihr kristallenes Schuppenkleid funkelte rubinrot. Er streckte den Arm aus, das magische Wesen wand sich um sein Hand-gelenk und verschmolz mit der Haut. Die im Visuspicus-Zauber ge-speicherten Erinnerungen offenbarten sich ihm.
„Sie wurde also gefunden“, sagte Kraten düster. „Gut, ich hasse uner-ledigte Dinge.“ Er erhob sich und nahm seinen Stab.
Eine Handbewegung und die Zimmertür flog auf. Kraten brüllte ins Treppenhaus: „Gillead, schnapp dir Henning und Finea! In fünf Minuten erwarte ich euch bei der Kutsche! Volle Kampfausrüstung!“
An der Wendeltreppe zögerte er, ging noch einmal in sein Zimmer und nahm das Kopfkissen vom Bett – die Kutschbänke waren verdammt hart, und der Kampf, der ihnen bevorstand, versprach auch ohne schmerzendes Gesäß grausam zu werden.
Wenig später flog der schwarze Vierspänner des Kanzlers durch das Stadttor von Vakorum und über die Heerstraße nach Osten. Gillead und Finea hatten den Wächter an der Kutsche mit einem Verwirrungs-fluch belegt und die Anti-Diebstahlzauber entfernt, mit denen man das Gefährt nach ihrem letzten Ausflug belegt hatte. Aber ein Problem waren sie nicht losgeworden. Dieses saß Kraten nun in Form eines ungebetenen Begleiters gegenüber.
„Ich verlange, dass Sie meine Kutsche sofort zurückbringen“, schimpf -te Fidibus Beldragon. Mit seinem penibel getrimmten Spitzbart und dem hermelinbesetzten Umhang, der bisher weder Staub noch Regen gesehen hatte, wirkte er wie ein Adliger. „Sie sind im Ruhestand, Mann! Jetzt bin ich Kanzler!“
„Ich war schon Kanzler, da haben Sie noch in Ihre Windeln gefurzt“, knurrte Kraten. „Außerdem ist derjenige Kanzler, der den Thron der Elemente inne hat, und wo ist Ihr Thron? Na, wo haben Sie ihn?“
Beldragon packte Kraten am Kragen. „Sie waren das? Meister Opladen hat Sie gleich verdächtigt, als der Thron weg war, und ich habe Sie noch in Schutz genommen!“
„Wir sollten uns alle beruhigen“, mischte sich Finea ein. Die pensio -nierte Kampfmagierin sah an diesem Morgen besonders faltig und grau aus. „Der Kanzler … ich meine Kanzler Kraten hat diesen Ausflug sicher nicht aus Spaß angeordnet … oder sehe ich das falsch?“ Im Starren ihrer müden Augen lag eine unausgesprochene Drohung.
„Natürlich nicht“, beeilte sich Kraten zu versichern. „Einer meiner Überwachungszauber wurde ausgelöst. Ein Visuspicus, den ich vor langer Zeit mit der Karte des Chaos verbunden hatte. Die Karte ist von einem Gnom ausgegraben und gestohlen worden.“
„Von einem Gnom entwendet? Die Karte des Kichernden Huberts?“ Beldragon war fassungslos. „Sie haben die ganze Zeit über gewusst, wo sie sich befindet?“
„Die Karte gilt als eines der drei mächtigsten schwarzmagischen Instru -mente“, sagte Gillead. Der emeritierte Großmagier schüttelte verständ-nislos den Kopf. „Wieso versteckst du so etwas, wo selbst ein Gnom es ausgraben kann?“
„Hältst du mich für bescheuert? Nur ein dunkles Wesen höchster Macht kann an die Karte gekommen sein.“ Kraten formte zwischen seinen Händen einen Erinnerungsspiegel. Darauf bewegte sich eine neblige Sumpflandschaft. „Ich war halbtot nach dem Kampf mit Hubert, dennoch wanderte ich durch die Dunkelsümpfe, bis zu einer Insel, die auf keiner Karte verzeichnet war und auf der nur Riesenschlangen und eine Menschenfresserin lebten.“ Die Zauberer zuckten zusammen, als das Gesicht einer monströs dicken Frau mit Haifischzähnen im Spiegel auftauchte.
Finea gluckste heiser. „Propperes Mädel.“
„Das ist die Bissige Heike“, sagte Kraten. „In ihrer Höhle schlug ich eine zehn Klafter tiefe Grube in den Fels und ließ neuen Stein über der Karte wachsen. Also komm mir nicht mit
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