WELTENTOR 2013 - Fantasy (German Edition)
Gerechtigkeit geht, dann ist diese Edana bereit, ihre Zurückhaltung aufzugeben. Er hat keinen Zweifel daran, dass sie mehr weiß als alle Pauker zusammen. Natürlich hat es einen guten Grund, weshalb sie trotzdem nur eine mittelmäßige Schüle -rin ist: Sie muss sich unauffällig verhalten, um nicht als extraterres-trisches Wesen entlarvt zu werden.
Für diesen Nachmittag hat sich Emilio vorgenommen, die Verdächtige einmal mehr zu observieren. Ihren Wohnsitz konnte er bereits ermit -teln – das war nicht schwer. Wenn sie, so wie seinerzeit ET, auf der Erde gestrandet ist oder zurückgelassen wurde, müsste sie dort ganz alleine leben. Das gilt es herauszufinden, auch ohne Geheimkameras, Wanzen und Peilsender.
Die fragliche Person macht einen Umweg und begibt sich in den S upermarkt. Emilio registriert, dass sie Bioprodukte bevorzugt; inwieweit das für eine Außerirdische typisch ist, vermag er nicht zu sagen.
Art und Weise wie sie ihren Einkaufswagen füllt, lassen vermuten, dass sie es nicht nötig hat, auf die Preise zu achten.
Emilio beobachtet, wie die Kassiererin die Artikel einscannt und den Betrag nennt. Dann wird er Zeuge, wie Edana das ahnungslose Opfer fixiert und behauptet, ihr bereits einen 20-Euroschein gegeben zu haben. Die Verkäuferin besinnt sich einen Moment und händigt ihr dann tatsächlich das Wechselgeld aus.
„So macht sie das also!“, empört sich Emilio. „Kein Wunder, dass es ihr nie an Taschengeld mangelt.“
Die Betrügerin biegt mit ihrem olivgrünen Designer-Schulranzen und einer braunen Papiertragetasche in die Moritz-von-Schwind-Gasse ab. Dort wohnt das Früchtchen. Leider hat Emilio immer noch keinen Plan, wie er ihr in das Haus folgen könnte. Da sich das Observierungs -objekt mit einem Male in Luft aufgelöst hat, wird er den vorerst auch nicht benötigen. Ersatzweise betrachtet er sich noch einmal Klingel und Briefkasten. Die handgeschriebenen Namensschildchen könnten von Edana gefertigt sein; das wäre ein Indiz für die Richtigkeit seiner Theorie. Als er sich verziehen will, tritt selbige hinter einem parkenden Lieferwagen hervor. „Warum spionierst du mir nach?“, stellt sie ihn mit peinlicher Schärfe zur Rede.
Emilio hatte befürchtet, dass die vermeintliche Außerirdische entweder den Tarnmodus aktiviert oder sich in ihre Wohnung gebeamt haben könnte. Gleichermaßen erschrocken wie erleichtert überlegt er nun, was er ihr antworten soll. Aus der Verlegenheit heraus versucht er es mit der Wahrheit: “Ich beobachte dich schon eine geraume Zeit. Ich weiß, dass mit dir irgendetwas nicht stimmt. Du bist eine Außerirdische, nicht wahr?“
Edana blickt ihn entgeistert an. Dann lacht sie laut los. „Eine Außer-irdische? Du redest wirr, Emilio. Alpha Centauri ist 4,3 Lichtjahre ent-fernt, bis zum Zentrum unserer Milchstraße sind es 26.000 Lichtjahre, und die nahegelegene Andromeda-Galaxie liegt mit 2,5 Millionen Licht-jahren fernab aller Routen. Solche Entfernungen wird niemals ein Raumschiff bewältigen können. Oder glaubst du etwa allen Ernstes an solche Sciencefiction-Märchen?“
Emilio zieht es vor, sich dazu nicht zu äußern. „Wenn du keine Außerirdische bist – wer oder was bist du dann?“
Edana spitzt ihre Lippen. „Was weißt du von mir? Was hast du alles beobachtet?“
Emilio sagt es ihr: „Du kannst die Menschen beeinflussen. So wie eben im Supermarkt. Du hattest der Kassiererin doch gar keine 20 Euro gegeben? Und du weißt mehr, als ein normaler Mensch wissen kann; was du aber in der Regel für dich behältst.“ Spontan entschließt er sich, sie mit seiner noch unbestätigten Vermutung zu bluffen: „Und ich weiß, dass du ganz alleine lebst. Ohne Eltern oder Erziehungsberech-tigten. Ein 14jähriges Mädchen.“
Edana verzieht das Gesicht. „Woher willst du denn wissen, wie alt ich bin?“ Sie überlegt.“Also gut. Hast du Hunger? Dann lade ich dich zum Essen ein. Vorausgesetzt, dass du mir beim Abwasch hilfst.“
Emilio ist von seinem Erfolg überrumpelt. Diese Einladung muss er annehmen, auch auf die Gefahr hin, dass seine Gastgeberin darauf aus sein sollte, ihn zu vergiften. Er folgt ihr in den zweiten Stock des Alt -baus, wo die alleinstehende Minderjährige einen ansehnlichen Schlupf-winkel bewohnt. Die Räume sind charmant eingerichtet: Möbel aus Kiefernholz, hellblaue Wollteppiche und jede Menge Pflanzen. An den pfirsichfarbenen Wänden hängen romantische Märchen-Darstellungen des 19. Jahrhunderts. Die weiß gekalkte
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