WELTENTOR 2013 - Fantasy (German Edition)
Uhr.
Moritz-von-Schwind-Gasse 12.
Emilio klingelt bei der undurchsichtigen Gastpraktikantin Edana Zim -mermann. Offiziell, weil ihn deren Mutter zum Mittagessen eingeladen hat, und natürlich, um anschließend für die Schule zu lernen. Was ihn wirklich erwartet, weiß er nicht. Selbst die Menüfolge ist ihm unbe-kannt.
Edana hat eine Pizza Vegetale im Ofen – natürlich selbst gemacht. Als Vorspeise wird gemischter Salat serviert. Diesmal gibt sich die Köchin, was das Rezept betrifft, bedeckt.
Emilio vermutet, dass angekohlte Blätter einer unbekannten Pflanzen-art für den sensationellen Geschmack verantwortlich sind.
„Warum hast du eigentlich keinen Fernseher?“, wundert er sich nach dem Essen.
„Weil ich davon Kopfschmerzen bekomme. Ich sehe Menschen, kann sie aber nicht spüren. Das macht mich ganz irre. Eine Stereoanlage besitze ich aber.“
Edana führt Emilio ins Wohnzimmer, um ihm das Gerät vorzuführen. „Ich denke, dass mich der Verkäufer gut beraten hat. Na ja, sie hat ja auch ein kleines Vermögen gekostet. Das Geld habe ich vom Konto meiner Mutter abbuchen lassen. Verstehst du? Die Miete muss ja auch regelmäßig überwiesen werden.“
Emilio versteht es nicht so ganz.
„Diese irdischen Dinge können ganz schön nervig werden, Emilio. Hoffentlich geht das mit den Gehaltsüberweisungen noch ein Weilchen gut. Meiner Mutter würde wohl fristlos gekündigt werden, wenn be-merkt werden würde, dass sie gar nicht existiert. Und ohne Geld ist man bei euch ja aufgeschmissen.“
Damit hat sie zweifelsfrei Recht.
„Ist dir etwas eingefallen?“, erkundigt sich Emilio, während er verlegen Edanas CD-Sammlung begutachtet, die nur aus Klassik besteht.
„Kannst du mir glaubhaft machen, dass du eine Schwarzelfe aus dem märchenhaften Zwischenreich bist?“
Edana spitzt den Mund. „Das Problem ist, dass ich mich dort zurzeit nicht blicken lassen darf. Verstehst du? Ich kann dich also nur an die Grenze führen. Dort wird meine Freundin Amandara auf dich warten. Höre auf das, was sie dir zu sagen hat.“ Sie lächelt aufmunternd. „Das Schlimmste, was dir passieren könnte, wäre, dass du nicht mehr so ganz zurückfinden würdest. Für dein Leben hier auf der Erde wäre das nicht so gut. Verstehst du? Ich möchte dir aber keine Angst machen.“
Emilio möchte jetzt keine Schwäche zeigen. Verlegen beobachtet er, wie Edana eine CD einlegt. „Mozarts zweites Violinkonzert. Ist das o.k. für dich?“
Der Proband zuckt mit den Schultern. Diese Musik ist ihm ähnlich unbekannt wie das märchenhafte Zwischenreich.
„Du weißt ja, dass ich dich nicht zu bezaubern vermag. Ich denke aber, dass es genügen sollte, wenn ich dich berühren darf. Sieh dir meine Bilder an, wähle dir eines aus und lasse es auf dich wirken. Es wird das Tor sein, durch das du in das märchenhafte Zwischenreich gelangst. Ach ja – und möge die Macht mit dir sein!“
Emilio erbebt, als Edana sich an ihn schmiegt. Ihm ist, als würde er von einem Blitz getroffen – allerdings in extremer Zeitlupe.
Gut, denn so bleibt ihm noch Zeit, sich ein Bild auszusuchen. Das kleine Gemälde, welches direkt vor seiner Nase hängt, zeigt im Vorder-grund zwei mäßig reizvolle Weiblichkeiten. Die Gespielinnen räkeln sich, beinahe gänzlich unbekleidet, in einem dunklen Tümpel, der sich in einer Senke eines bewaldeten Hügels, unter dem Wurzelwerk eines darüber thronenden Baumes, gebildet hat. Ein weißer Hirsch mit gol-denem Geweih beugt sich zu ihnen nieder, um aus der hingestreckten Hand der blonden Nymphe zu trinken und lässt es sich dabei gefallen, von ihrer dunkelhaarigen Gefährtin am Kopf gestreichelt zu werden. Über dieser Gruppe ist ein einsamer Reiter zu erkennen, der seinen Blick einem Regenbogen zugewendet hat, welcher hinter einer tiefen Schlucht erstrahlt. Das märchenhafte Schauspiel, das sich vor seinen Füßen abspielt, entgeht ihm dabei völlig.
„Ich habe mir schon gedacht, dass dir dieses Gemälde gefallen wird“, flüstert Edana kühl. Sie berührt seine Wangen. „Küss mich, Emilio. Und vertraue mir. So wie der Hirsch den Nymphen vertraut.“
Emilio zögert. Als sich Edanas Lippen auf seinen Mund legen, schließt er unwillkürlich die Augen. Nein, diese Edana kann kein Mensch sein. Ihr Speichel schmeckt süßer als Honig und ist berauschender als alles, was er bisher in seinem Leben gekostet hat. Seine Reise beginnt.
Wie in einem Fiebertraum taucht Emilio in einen regennassen Wald ein. Er folgt dem
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