WELTENTOR 2013 - Fantasy (German Edition)
dem Tag meiner Geburt verfolgen. Meine treuen Begleiter, meine ältesten Freunde kamen zurück. Was folgte, war ein Moment der Agonie. Ein Moment des Schmerzes und der Seelenqual. Viel deutlicher ist er in meiner Erinnerung als das Glück. Vielleicht, weil mein Leben in diesem Moment endete. Dieser Moment verwandelte mein Märchen in meinen Albtraum. Jenen Traum, aus dem ich seither nie mehr erwache:
Ein Ächzen kam aus seinem Mund. Der Glanz seiner grünen Augen erlosch und wich dem Starren jener leblosen Pupillen, welche Narîssa in ihrem Leben schon so oft erblicken durfte. Kein Laut kam mehr über seine Lippen, denn ein schwarzer Pfeil trug sein Leben davon. Zurück zu seiner Göttin. Meisterhaft an Präzision war die Spitze aus schwar -zem Obsidian durch sein Herz gedrungen und hatte ihm das Leben grausam aus dem Leib gerissen. Und Bruchteile von Sekunden später, begann das eigentliche Töten. War der Marktplatz noch vor Sekunden von glücklichen Kinderstimmen, von den Rufen der Händler, von La-chen und Glück erfüllt, so war er nun erfüllt von Schreien. Die Schreie, verursacht durch körperlichen Schmerz, waren schwer zu ertragen, doch viel schlimmer waren die Schreie, das schrille Heulen der Mütter, die ihre toten Kinder erblickten. Überall klangen sie gleich und alle verband die darin mitschwingende Seelenqual. Doch Narîssa wusste, dass die Schreie bald verklingen und jener Stille weichen würden, wel-che ihr ganzes Dasein bestimmt. Und diese Stille war noch viel schwe-rer zu ertragen als jeder Schrei, denn sie bedeutete das Ende. Es be-deutete, dass ihre Brüder ihr Werk vollendet hatten.
Narîssa bemerkte all dies nur am Rande. Sie hatte keine Angst, sie ve rspürte keinen Schmerz. Warum auch? Niemand würde ihr etwas tun, war sie doch diejenige, die den Tod in diese Stadt trug. War sie es doch, die noch vorletzte Nacht die beste Zeit für den Angriff an Idrenás, den Hauptmann der Kriegertruppe verriet. Das Einzige, was sie noch spür-te, war der Schock und der Unglaube, der sie erfüllte, als sie den leblosen Leib von Markûn betrachtete. Sie war schuld daran. Sie hatte sein Leben beendet. Sie hatte den Angriff einfach vergessen. Hatte vergessen, dass sie in der vorletzten Nacht den Zeitpunkt des Todes für all diese Ethíel auf diese Stunde gesetzt hatte. Sie hatte es in ihrem Glücks-gefühl einfach vergessen …
„Weidest du dich an seinem Ende?“ , hörte sie die Frage von Idrenás in ihrem Rücken. Diese Worte waren wie eine Ohrfeige, sie rissen sie aus ihrer Ohnmacht. Langsam drehte sie sich zu Idrenás um, dem Haupt-mann ihres Trupps aus Dunkelelfen. Ihre Maske war perfekt. Sie war es immer gewesen. Egal wie sie sich fühlte, ihr Gesicht zeigte jedem das, was es zeigen sollte. Nur Markûn war in der Lage einen kurzen Blick unter ihre Maske und in ihre Seele zu werfen. Und er war tot. Durch ihre Schuld.
„Darf ich sein Blut für meine Kunstwerke haben?“
Idrenás nickte und lachte. „Was immer du willst Saldra.“
„Nenn mich nicht mehr so, mein Name ist jetzt Narîssa …“
So hieß ich ab diesem Moment. Und warum auch nicht? Es war der Name, den ich während des einzigen Tages meines Lebens trug. Und ich nahm sein Blut. Ich vermischte es mit den Pulvern und Pflanzen, die es vor Verfärbung und Verfestigung schützen sollten und ich ver-wendete es. Aus seinem Blut sind all die Gemälde in meiner Galerie gefertigt! Hunderte Bilder schmücken diese Wände. Alle sind sie ent-standen aus Markûns Blut und alle zeigen sie Momente dieses einen Tages. Momente meines Lebens. Langsam schreite ich durch den run-den Raum und betrachte sie alle der Reihe nach. Sie zeigen mich, wie ich am Brunnen sitze, ihn, wie er plötzlich diese wunderschöne Blume in Händen hält, und uns gemeinsam, als wir für den Künstler Modell stehen. Sämtliche sind sie aus handwerklichem Standpunkt perfekt und dennoch nicht so vollkommen, wie dieses eine Bild eines namenlosen elfischen Künstlers, welches er in den letzten Minuten seines Lebens fertigte.
Vierundzwanzig Jahre sind seit Markûns Tod vergangen. Auf den Tag und die Sekunde genau. Es waren Jahre des Todes, denn ich brachte jenes Verderben über zahllose weitere Siedlungen der Ethíel und es waren Jahre der Qual, denn jeden Tag, an dem es möglich war, fertigte ich ein weiteres Bild aus Markûns Blut. Blut und Tränen, dies sind die Bestandteile meiner Kunst. Doch heute endet die mir selbst auferlegte Strafe. Für jede Stunde, die ich mit Markûn
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