WELTENTOR 2013 - Fantasy (German Edition)
hatte.
Und zweifelnd musterte sie da Enbera und er ließ es zu, dass sie seine Verwirrung nur allzu deutlich spürte.
„ Doch, ich bin mir sicher“, beharrte der Geist der Frau. „Einen derart einfachen und dummen Körper zu übernehmen, ist keine große Sache. Und diese Würmer können, wenn sie wollen, durch die Erde gehen. Und sie können auch Fleisch fressen. Ich glaube, das ist es, was ich wirklich tun will: Meine Feindinnen und die, die ihnen gleich sind, zu fressen, wie sie auch den gebraten und gefressen haben, den ich liebte.“
Und da nickte Enbera und verstand. Der Rachegeist aber stürzte sich in einem Satze auf den kleinen Wurm und bedrängte ihn und zerschlug und verlöschte dessen winzigen Geist und indem er das tat, übernahm er den Körper.
Enbera jedoch sah seine Aufgabe dort nun als erfüllt an, und nach nur noch wenig zögerndem Betrachten des neuen Lindwurmes wandte er sich um und ging fort. Und er verließ Aimes und reiste heim in die Weiten der Länder jenseits des Meeres.
Die Geschichte des Lindwurmes aber, dessen Geist einstmals Terane , das Kind, geheißen hatte, begann hier erst. Denn anfangs, da ent-wickelte sich dieser nur langsam, wie es die Art dieser Wesen ist, und der Geist des Mädchens brauchte lange, ehe sie mit ihm zurechtkam. Dann aber verstand sie ihn, und mit beidem, dem Verstande eines Menschen und den Instinkten eines Wurmes, schaffte sie es schnell, ihren neuen Körper mit guter Kost hochzupäppeln.
Anfangs fraß sie nur kleines Wild, denn sie war vorsichtig und wollte nicht im Übereifer einen Fehler machen. Dann aber erreichte auch jener Wurmkörper die Größe, da er sich hätte teilen müssen. Sie aber erkannte ihre Möglichkeiten und unterdrückte die ureigenen Körper -funktionen und Verhaltensweisen des einfachen Tieres.
So wuchs jener Lindwurm weiter, wo kein anderer es getan hätte, und bald wurde er nicht nur länger, sondern auch breiter und kräftiger über jedes der Natur vernünftige Maß hinaus. Und endlich, als der große Wurm schon über drei Mannslängen lang und eine halbe in der Breite groß war, da begann der Rachegeist seine Jagd.
Zu den nächsten Dörfern stieß er vor; dann erst zu dem ursprüng-lichen, in dem er einst in anderer Form umgekommen, zurück. Wo immer er aber alte Frauen einsam fand, da fiel er sie an und tötete sie oder fraß sie gleich bei lebendigem Leibe. Und eine nach der anderen entledigte er sich so auch all jener Frauen, die einstmals für die Qualen seines Geistes verantwortlich gewesen waren, einer nach der anderen.
Keine dieser Alten aber konnte erkennen, warum der riesige Wurm so handelte, wie er es tat, und sie rätselten weiter, denn sein Blutdurst war noch lange nicht gestillt vom Tode jener ihm bekannten Peinigerinnen. Ein Dorf nach dem anderen überfiel er, manchmal fraß er viele, manchmal auch wenige.
So wurde er immer größer, fetter, kräftiger und unbezwingbarer, bis sich niemand mehr einen Rat gegen ihn wusste. Da sah der Frauengeist ein, dass er nunmehr in einer gewissen Weise gesiegt hatte, und wurde ruhiger.
Nur noch hin und wieder fraß sie von da an Frauen; sonst hielt sie sich versteckt in der Erde, in Wäldern oder zwischen großen Steinen und beobachtete, bis dass sie etwas sah, dass ihr nicht gefiel am Verhalten der Menschen. Dann erst wurde sie wieder zum Ungeheuer und jagte und verschlang ihre schreienden Opfer.
Die Frauen von Aimes allein sahen im Auftauchen des großen Lind -wurmes mitnichten einen Grund, ihr Verhalten und ihre Kultur zu verändern, sondern wussten sich im Gegenteil durch ihn bestätigt. Denn nur ein Mann, so sagten sie sich, hätte so ein Übel nach ihnen ausschicken können in seiner Grausamkeit, denn nur einen Mann hätte schließlich überhaupt einen Grund, ihre Kultur und deren Vertrete-rinnen anzugreifen, wo die Frauen dort doch so vernünftig seien.
Und noch ein weiterer Umstand bekräftigte ihnen diese Vermutung, de nn es verhielt sich so, dass sie glaubten, dass der Lindwurm alle jene Frauen tötete und fraß, derer er habhaft wurde. Einige wenige allein jedoch verschonte er, und dies waren eben jene Frauen, vor welche sich ein Mann stellte, der jene liebte, und der bereit war, sie mit nichts weniger als seinem eigenen Leben zu verteidigen.
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