WELTENTOR 2013 - Fantasy (German Edition)
Wie er es in seiner Ausbildung ge -lernt hatte, unterdrückte er seine wachsende Besorgnis und richtete seine Aufmerksamkeit ganz auf das raschelnde Geräusch ihrer Schritte im herabgefallenen Laub.
Stille lag über der Lichtung und eine Ahnung von Frost. Ihr Atem wob Nebelwolken vor ihren Mündern. Einen Spalt weit offen stand die Hüttentür und beide Männer witterten schon im Näherkommen den morastigen Geruch, von dem Kessia gesprochen hatte. Morva legte Bilan eine Hand auf den Arm, um ihn zurückzuhalten. Bilan glaubte schon, Morva wolle ihn auffordern, draußen zu warten. Morva mus-terte ihn einen Moment schweigend, sein seltsam altersloses Gesicht mit den zu hellen blauen Augen überraschend mitleidig. Der Schreck fuhr Bilan in die Glieder. „Wappne dich“, raunte Morva und stieß die Pforte weit auf.
Der Gestank war überwältigend und breitete sich nun über sie wie ein Leichentuch. Beinahe erwartete Bilan, der Boden werde sich unter ihm auftun und ihn hinabziehen, so sehr schien der Sumpf in Fyrsars Be -hausung eingedrungen zu sein. Im Halbdunkel der Hütte vermochte er zunächst nichts zu erkennen. Bilan folgte Morva ins Innere. Nach und nach stellte sich seine Sicht auf das knappe Licht ein und er erkannte Nester schwarzen Schimmels an Wänden und Decke. Stuhl und Tisch waren umgestoßen, verdorbene Speisen willkürlich auf den Bohlen ver-teilt. Umweit der Tür entdeckte Bilan eine silberne Kastenfalle. Er ließ die Hände über die in der Decke eingeritzten Symbole fahren. Trotz seiner Sorge durchströmte ihn jähe Wut. Ohne Zweifel gehörte sie zu den magischen Gerätschaften Morvas, der sie seinem Lehrling vor einiger Zeit überlassen hatte. Die Klappe der Falle war eingerastet, das Innere jedoch leer.
Bilan wurde sich der Stille um ihn herum bewusst, sein Blick suchte Morva. Dieser war um den umgestürzten Tisch herum getreten und beugte sich hinab. Bilan folgte ihm bangen Herzens.
Der Leib seines Bruders breitete sich über den Boden, die Glieder starr und verkrümmt wie verkrüppelte Winteräste. Er konnte noch nicht lange tot sein.
„Ignis fatuus“, zischte Morva.
Bilan beherrschte bereits genug Latinum, um sich zu fragen, warum der Zaubermeister von einem Narrenfeuer sprach. Ein wildes Entsetzen hatte Bilan erfasst. Gewaltsam zwang er seinen Atem zur Ruhe, nur Wissen konnte ihm jetzt eine Zuflucht bieten.
„Meister?“ fragte er, die eigene Stimme fremd und hohl in den Ohren.
„Fyrsar fiel einem Irrlicht zum Opfer. Oder sollte ich besser sagen, ein Irrlicht tötete ihn, Opfer wurde er seiner selbst?“
Bilan ertrug es nur einen Moment lang, seinem Bruder ins Gesicht zu sehen. Das Sommerblond seines Haares stand in Kontrast zur Haut eines Greises, die sich papierdünn und wächsern über die Knochen spannte. Die Augäpfel schienen über ihre Höhlen hinausgewachsen, hatten alles Weiß verloren und die ungesunde Farbe überreifer Pflau-men angenommen.
„Siehst du die Abdrücke von Saugnäpfen an Hals und Kopf? Diese und der Geruch deuten zweifellos auf das Werk eines Irrlichts, in alten Überlieferungen auch Narrenfeuer genannt.“
„Sagt man nicht, dass sie Wanderer so vom Weg abbringen, dass diese im Moor versinken?“
„Dabei handelt es sich um stümperhafte Übersetzungen. Narrenfeuer führen ihren Wirt vielmehr in dessen eigenem Geist in die Irre, indem sie ihn mit Illusionen narren und ihn ganz ihren eigenen Zwecken u nterwerfen. Sie nähren sich stetig vom Ingenium dessen, den sie be-fallen haben. Sie sind Schmarotzer und keine Symbionten. Ihre Quellen überleben in der Regel nicht lange, denn sie vergessen zu essen, zu trinken und finden keinen Schlaf mehr.“
Offenkundig musste sich Morva ob der tragischen Umstände zurück -halten, um sich nicht allzu sehr für das Thema zu erwärmen. „Sie sind Wesenheiten versunkener Magie und sehr selten. Das Silber einer Kas-tenfalle, wie dein Bruder sie anscheinend benutzt hat, vermag sie nicht zu halten. Unsere Untersuchung wird daher mit Sicherheit zu Tage fördern, dass dieses Narrenfeuer bereits fort ist.“ Er konnte sein Be-dauern nicht verhehlen.
„Aber wie hat Fyrsar es dann nur an sich bringen können? Und wozu sollte ihm ein solches Ungeheuer denn nütze sein?“
Morva schwieg lange. „Es liegt kein Segen darin, erbarmungslose Worte über die Toten zu verlieren. Aber es gibt wohl keinen angenehmen Weg, dir dies zu erklären. Du kanntest deinen Bruder am besten, aber auch mir ist sein Lebenswandel nicht verborgen
Weitere Kostenlose Bücher