Wen der Rabe ruft (German Edition)
hatten sie beinahe dieselbe Farbe wie die blauen Gipfel der Berge. Die Straße, auf der sie gekommen waren, schlängelte sich wie ein blaugrün schillernder Fluss zurück Richtung Stadt. Das indirekte Sonnenlicht war besonders eigenartig: beinahe gelb, wirkte es durch die hohe Luftfeuchtigkeit regelrecht dickflüssig. Außer dem Gesang der Vögel war nur leises, weit entferntes Donnergrollen zu hören.
»Ich hoffe, das Wetter hält sich«, bemerkte er.
Dann schritt er auf die Kirchenruine zu. Dies war, so schien es Blue, Ganseys ganz eigene Art, sich fortzubewegen – er schritt . Gehen war wohl nur etwas für gewöhnliche Menschen.
Blue stand neben ihm und betrachtete die Kirche, die ihr im Tageslicht immer noch unheimlicher erschien. Innerhalb der verfallenen Mauern, zwischen herabgestürzten Dachtrümmern, streckten sich kniehohes Gras und Bäume, so groß wie Blue, der Sonne entgegen. Nichts wies darauf hin, dass es hier einmal Bänke oder eine Gemeinde gegeben hatte. Das Ganze hatte etwas Tristes, Bedeutungsloses an sich: der Tod, ohne ein Leben danach.
Sie erinnerte sich, wie sie vor all diesen Wochen mit Neeve hier gestanden hatte. Fragte sich, ob Neeve wirklich nach ihrem Vater suchte und wenn ja, was sie vorhatte, falls sie ihn fand. Sie dachte an die Geister auf ihrem Weg in die Kirche und überlegte, ob Gansey wohl …
»Ich habe das Gefühl, schon mal hier gewesen zu sein«, sagte Gansey.
Blue wusste nicht, wie sie darauf antworten sollte. Sie hatte ihm bereits eine Halbwahrheit über jenen Abend erzählt und war sich nicht sicher, ob sie ihm auch die andere Hälfte preisgeben sollte. Außerdem konnte es doch gar nicht wahr sein. Wie er so neben ihr stand, so überaus lebendig, war es schwer vorstellbar, dass er in weniger als einem Jahr tot sein sollte. Er trug ein Poloshirt in einem dunklen Türkiston und es schien ihr unmöglich, dass jemand in einem dunkeltürkisfarbenen Poloshirt an etwas anderem sterben würde als einem Herzinfarkt im Alter von sechsundachtzig Jahren, höchstwahrscheinlich sogar noch beim Polospielen.
»Und, was sagt dein Zauberometer?«, erkundigte sich Blue.
Gansey hielt ihr das Messgerät hin. Seine Fingerknöchel waren bleich, die Haut straff über den Knochen. Auf der Anzeige des Geräts blinkten rote Lichter auf.
»Schlägt voll aus«, antwortete er. »Genau wie im Wald.«
Blue sah sich um. Höchstwahrscheinlich war das hier alles Privatgelände, auch das Grundstück, auf dem die Kirche stand. Das Gelände dahinter jedoch wirkte abgeschiedener. »Wenn wir da langgehen, werden wir vielleicht nicht sofort wegen unbefugten Betretens erschossen. Dass wir unentdeckt bleiben, können wir mit deinem Shirt wohl vergessen.«
»Petrol ist eine wunderbare Farbe und die lasse ich mir auch von dir nicht miesmachen«, sagte Gansey. Doch seine Stimme klang dünn und er warf einen beunruhigten Blick zurück zur Kirche. In diesem Moment sah er jünger aus denn je, die Augen zusammengekniffen, das Haar zerzaust, der Gesichtsausdruck unverstellt. Jung und – erstaunlicherweise – als hätte er Angst.
Blue dachte: »Ich kann es ihm nicht sagen. Niemals. Ich muss versuchen, es zu verhindern . «
Im nächsten Moment war es, als hätte Gansey den Charme-Schalter wieder umgelegt. Mit einer Geste auf Blues lilafarbenes Tunikakleid sagte er: »Nach Ihnen, Fräulein Aubergine.«
Blue hob einen Stock auf, um damit im Gras nach Schlangen zu stochern, und sie machten sich auf den Weg. Der Wind trug den Geruch von Regen mit sich und Donner ließ den Boden erbeben, aber noch hielt sich das Wetter. Das Gerät in Ganseys Händen blinkte unablässig vor sich hin und fiel nur dann auf Orange zurück, wenn sie sich zu weit von der unsichtbaren Linie wegbewegten.
»Danke fürs Mitkommen, Jane«, sagte Gansey.
Blue sah ihn finster an. »Gern geschehen, Dick .«
Er blickte gequält. »Bitte nicht.«
Der aufrichtige Schmerz in seinem Gesicht verdarb ihr mit einem Schlag den ganzen Spaß daran, seinen echten Namen zu benutzen. Sie ging weiter.
»Du bist die Einzige, die das alles hier kein bisschen zu beunruhigen scheint«, sagte er nach einer Weile. »Ich würde nicht unbedingt behaupten, dass ich an so was gewöhnt bin, aber das eine oder andere ist mir doch schon untergekommen. Und außerdem schätze ich, bin ich einfach … aber Ronan und Adam und Noah, die wirken alle so … konsterniert.«
Blue tat so, als wüsste sie, was »konsterniert« bedeutete. »Aber ich lebe ja auch damit. Meine
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