Wen der Rabe ruft (German Edition)
geklemmt. »Und du kannst froh sein, dass du sie am Hörer hast und niemand anderen.«
»Auf diese Möglichkeit war ich durchaus vorbereitet«, erwiderte Gansey. Es war seltsam, mit ihm zu telefonieren – seine Stimme passte nicht ganz zu seinem Gesicht. »Trotzdem, ich bin froh, dass ich dich erwischt habe. Wie geht es dir? Ich hoffe doch, du bist wohlauf?«
»Er meint es nicht herablassend«, ermahnte Blue sich. Mehrere Male. »Da hoffst du ganz richtig.«
»Hervorragend. Hör mal, Adam muss heute arbeiten und Ronan ist mit seinen Brüdern in der Kirche, aber ich würde gern losziehen und … mich ein bisschen umsehen.« Dann fügte er hastig hinzu: »Nicht im Wald. Ich dachte da an diese Kirche auf deiner Karte. Hättest du vielleicht Lust …«
Er stockte. Gansey geriet ins Stocken? Blue musste seinem Schweigen erst einen Moment lang lauschen, bis sie begriff, dass er sie gerade fragte, ob sie mitkommen wollte. Dann brauchte sie einen weiteren Moment, bis ihr klar wurde, dass sie beide noch nie ohne die anderen Jungs unterwegs gewesen waren.
»Ich muss Gassi gehen.«
»Ach so«, erwiderte Gansey, offensichtlich enttäuscht. »Tja, okay.«
»Aber das dauert nur eine Stunde.«
»Ach so«, wiederholte er ungefähr vierzehn Stufen heiterer. »Soll ich dich dann abholen?«
Blue warf einen verstohlenen Blick über die Schulter in Richtung Wohnzimmer. »Ach, nein … ich, äh, ich warte auf dem Parkplatz auf dich.«
»Hervorragend«, sagte er wieder. »Ganz fabelhaft. Ich denke, das dürfte interessant werden. Bis in einer Stunde dann.«
Fabelhaft? Gansey ohne Adam – Blue war sich nicht sicher, ob das funktionieren würde. Trotz Adams scheuen Interesses an ihr waren die Jungen ihr immer wie eine Einheit erschienen, ein einziges, mehrköpfiges Wesen. Sich mit einem von ihnen ohne die anderen zu treffen, kam ihr fast ein bisschen … gefährlich vor.
Aber nicht mit Gansey loszuziehen, kam gar nicht infrage. Sie war genauso gespannt wie er.
Blue hatte gerade aufgelegt, als sie ihren Namen hörte.
»Bluuuuu-huuuuue, mein liebes Kind, komm doch mal!«
Das war Mauras Stimme und der Singsang, in dem sie nach ihr rief, hatte einen höchst ironischen Anklang. Mit einem unbehaglichen Gefühl im Magen folgte Blue dem Ruf ins Wohnzimmer, wo Maura, Calla und Persephone mit Gläsern voll Orangensaft saßen. Blue hegte den starken Verdacht, dass darin ein guter Schuss Wodka enthalten war. Als sie den Raum betrat, sahen die drei Frauen träge lächelnd zu ihr auf. Ein Rudel Löwinnen.
Blue musterte die Drinks mit hochgezogenen Augenbrauen. Das Morgenlicht, das durch die Fenster hereinfiel, ließ sie in klarem, durchscheinendem Gelb aufleuchten. »Es ist gerade mal zehn Uhr.«
Calla legte die Finger um Blues Handgelenk und zog sie zu sich auf das kleine mintgrüne Zweiersofa. Ihr Glas war schon so gut wie leer. »Es ist Sonntag. Was sollen wir sonst machen?«
»Also, ich muss jetzt mit den Hunden raus«, sagte Blue.
Maura auf ihrem blau gestreiften Sessel am anderen Ende des Raums trank einen Schluck und zog dann eine Grimasse. »Gott, Persephone. Du tust da wirklich viel zu viel Wodka rein.«
»Irgendwie verschätze ich mich immer«, meldete sich Persephone traurig von der Rattanbank vor dem Fenster zu Wort.
Als Blue sich wieder erheben wollte, sagte Maura, den eisernen Unterton in ihrer Stimme nur schwach verhüllt: »Bleib doch einen Moment bei uns sitzen, Blue. Erzähl uns, was du gestern gemacht hast. Und vorgestern. Und vorvorgestern. Ach, weißt du – reden wir doch einfach gleich über die letzten paar Wochen.«
Erst jetzt begriff Blue, dass Maura vor Wut schäumte. So hatte sie sie erst sehr selten erlebt und die Tatsache, dass es diesmal sie selbst war, der diese Wut galt, ließ sofort Schweißperlen auf ihre Haut treten.
»Na ja, ich war …« Sie brach ab. Lügen schien sinnlos.
»Ich bin nicht deine Kerkermeisterin«, unterbrach Maura. »Ich werde dich bestimmt nicht in deinem Zimmer einsperren oder dich ins Kloster verfrachten, verdammt noch mal. Also hör gefälligst auf, dich heimlich wegzuschleichen.«
»Ich hab mich nicht …«
»Und ob du das hast. Ich bin schon seit deiner Geburt deine Mutter und ich sage dir, genau das hast du. Es ist also anzunehmen, dass Gansey und du euch gut versteht, ja?«
Maura setzte eine nervtötend wissende Miene auf.
»Mom.«
»Orla hat mir von seinem schnittigen Auto erzählt«, fuhr Maura fort. Ihre Stimme klang immer noch gekünstelt fröhlich und
Weitere Kostenlose Bücher