Wen der Rabe ruft (German Edition)
Adam davon überzeugen sollte, sein Elternhaus zu verlassen, obwohl Henrietta nun nicht mehr wie eine komplette Sackgasse erschien, und was er Cleveres zu Blue sagen konnte, wenn er sie das nächste Mal sah. »Ich weiß mich zu beschäftigen.«
32
A ls Blue nach der Schule an die Tür des Monmouth klopfte, machte Ronan auf.
»Ihr habt nicht draußen gewartet«, erklärte Blue befangen. Selbst nach all der Zeit hatte sie das Loft noch kein einziges Mal betreten und fühlte sich in dem heruntergekommenen Treppenhaus wie ein Eindringling. »Ich dachte, ihr seid vielleicht gar nicht da.«
»Gansey feiert ’ne Party mit seiner Mami«, sagte Ronan. Er roch nach Bier. »Und Noah ist immer noch tot. Aber Parrish ist hier.«
»Jetzt lass sie schon rein, Ronan«, rief Adam und erschien kurz darauf an Ronans Seite. »Hey, Blue. Du warst noch nie hier oben, oder?«
»Nein. Soll ich lieber …«
»Quatsch, komm doch …«
Nach einigem Hin und Her war Blue schließlich drin, die Tür hinter ihr geschlossen und die Jungen warteten gespannt auf ihre Reaktion.
Blue ließ ihren Blick durch den ersten Stock wandern. Das Loft sah aus wie das Zuhause eines verrückten Erfinders oder besessenen Wissenschaftlers oder sehr chaotischen Forschers. Nachdem sie Gansey mittlerweile besser kannte, beschlich sie der Verdacht, er könnte alles auf einmal sein. Sie fragte: »Was ist denn im Erdgeschoss?«
»Staub«, antwortete Adam, während er mit dem Fuß diskret eine schmutzige Jeans, in der noch ein Paar Boxershorts steckte, aus Blues unmittelbarem Sichtfeld schob. »Und Beton. Und noch mehr Staub. Und anderer Dreck.«
»Und«, ergänzte Ronan, während er sich in Richtung einer Doppeltür am anderen Ende des Raumes zurückzog, »außerdem noch Staub.«
Einen Augenblick lang reckten Ronan und Adam die Hälse und blickten sich in der weitläufigen Wohnung um, als sähen sie sie selbst zum ersten Mal. Der riesige Raum, rot getönt von der Nachmittagssonne, die durch die Dutzenden Fensterscheiben fiel, war wunderschön und völlig überladen. Er erinnerte Blue an das Gefühl, das sie beim Blättern in Ganseys Notizbuch überkommen hatte.
Zum ersten Mal seit Tagen dachte sie an die Vision, an seine Finger auf ihren Wangen.
Blue, küss mich.
Einen halben Atemzug lang schloss Blue die Augen, um ihre Gedanken zu ordnen.
»Ich muss Chainsaw füttern«, sagte Ronan, ein Satz, der in Blues Ohren keinerlei Sinn ergab. Er verschwand in dem winzigen Büroraum und schloss die Tür hinter sich. Zuvor war von dort noch ein unmenschliches Krächzen ertönt, das Adam jedoch nicht kommentierte.
»Tja, wie es aussieht, haben wir heute nichts vor«, erklärte Adam. »Setz dich, wir können ja einfach so ein bisschen rumhängen.«
Blue sah sich nach einer Couch um. Das mit dem Setzen wäre einfacher gewesen, wenn es eine Couch gegeben hätte. Mitten im Raum stand ein ungemachtes Bett, vor einem der wandhohen Fenster ein extrem teuer aussehender Ledersessel (einer von der Art, bei der glänzende Messingnieten den Bezug an Ort und Stelle hielten) und am Schreibtisch ein Bürostuhl mit einem Wust von Zetteln darauf. Keine Couch, nirgendwo.
»Ist Noah …?«
Adam schüttelte den Kopf.
Blue seufzte. Vielleicht, dachte sie, hatte Adam ja recht gehabt, was Noahs Leiche anging. Vielleicht hatte es ihm die Energie geraubt, als sie von der Ley-Linie entfernt worden war.
»Ist er hier?«, fragte sie.
»Es fühlt sich so an, aber ich weiß es nicht.«
»Du kannst meine Energie benutzen, Noah«, sagte Blue in die Luft. »Wenn du sie brauchst, meine ich.«
Adams Gesichtsausdruck war nicht zu deuten. »Das ist echt mutig von dir.«
Blue war anderer Meinung. Wenn dies wirklich etwas sein sollte, das Mut erforderte, hätte ihre Mutter sie bestimmt nicht so oft mit zur Kirchenwache genommen. »Ich mache mich einfach gern nützlich. So, du wohnst also auch hier?«
Adam schüttelte den Kopf, den Blick auf die Silhouette von Henrietta draußen vor den Fenstern gerichtet. »Auch wenn Gansey das lieber wäre. Er hat gern alle seine Sachen an einem Ort.« Seine Stimme klang verbittert und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »So was sollte ich nicht sagen. Er meint es ja nicht böse. Und wir sind – na ja, es ist halt so: Das Gebäude hier gehört Gansey. Alles darin gehört Gansey. Ich muss zumindest das Gefühl haben, dass wir uns auf Augenhöhe befinden, und das könnte ich nicht, wenn ich hier wohnen würde.«
»Und wo wohnst du dann?«
Adams
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