Wen der Rabe ruft (German Edition)
Erfahrung bringen und dann vielleicht irgendwann Glendower finden.«
»Und was ist mit Whelk?«, fragte Maura.
»Ich weiß nicht«, gab er zu. »Über den möchte ich eigentlich gar nicht nachdenken.«
Mehrere gereizte Gesichter wandten sich Gansey zu. Maura schnappte: »Nun, er wird sich wohl leider kaum in vornehmer Zurückhaltung üben, nur weil du nicht von ihm behelligt werden möchtest.«
»Ich habe ja auch nicht gemeint, dass das realistisch ist«, verteidigte sich Gansey, ohne den Blick von seiner Daumenschiene zu heben. »Ich habe nur gesagt, wie es mir am liebsten wäre.«
Ihm war bewusst, wie naiv seine Antwort klang.
Er fuhr fort: »Ich gehe zurück nach Cabeswater. Er hat mir mein Notizbuch weggenommen und ich werde nicht zulassen, dass er mir auch noch Glendower nimmt. Ich höre nicht auf, nach ihm zu suchen, bloß weil Whelk dasselbe vorhat. Und das mit Noah bringe ich auch in Ordnung. Irgendwie.«
Blue sah ihre Mutter an, die einfach nur mit verschränkten Armen dastand. Dann sagte sie: »Ich helfe dir.«
36
E ndstation, Kumpel«, sagte Ronan und zog die Handbremse an. »Trautes Heim, Dreck allein.«
Im Dunkeln war der Doppelwohnwagen der Parrishs nichts als ein trostloser grauer Kasten mit zwei erleuchteten Fenstern. Eine Silhouette am Küchenfenster zog bedächtig den Vorhang zur Seite und beäugte den BMW. Im Auto saßen nur Adam und er; Gansey war mit seinem Camaro direkt vom Krankenhaus zum Fox Way gekommen und musste den Wagen somit auch zurück zum Monmouth Manufacturing fahren. Das war für sie beide in Ordnung so, denn im Moment hatten Adam und Ronan ja keinen Streit und waren auch zu erschlagen von den Ereignissen des Tages, um einen neuen anzufangen.
Adam angelte seine Umhängetasche vom Rücksitz. Sie war das einzige Geschenk, das er je von Gansey angenommen hatte, und das auch nur, weil er sie eigentlich nicht brauchte. »Danke fürs Herfahren.«
Eine weitere Silhouette, die eindeutig Adams Vater gehörte, hatte sich zu der ersten am Fenster gesellt. Adams Magen zog sich zusammen. Er schloss die Finger fest um den Gurt seiner Tasche, doch er stieg nicht aus.
»Mann, du musst da echt nicht raus«, sagte Ronan.
Dazu gab Adam keinen Kommentar ab, das half ihm schließlich auch nicht weiter. Stattdessen fragte er: »Solltest du nicht längst Hausaufgaben machen?«
Doch an Ronan, dem Erfinder der spitzen Bemerkungen, prallte so etwas einfach ab. Sein Lächeln wirkte hart im Schein des Armaturenbretts. »Ja, Parrish. Sollte ich wohl.«
Trotzdem stieg Adam nicht aus. Die unruhige Silhouette seines Vaters gefiel ihm ganz und gar nicht. Aber noch länger im Auto sitzen zu bleiben – ganz besonders diesem Auto, das so offensichtlich einem Aglionby-Schüler gehörte – und mit seinen reichen Freunden zu protzen, war auch nicht die klügste Strategie.
»Meinst du, sie verhaften Whelk noch vor dem Unterricht morgen?«, fragte Ronan. »Wenn ja, lese ich das Kapitel nämlich gar nicht erst.«
»Falls er überhaupt auftaucht«, antwortete Adam, »bezweifle ich, dass es ihn sonderlich interessiert, wer was gelesen hat.«
Sie schwiegen. Dann sagte Ronan: »Ich muss los, den Vogel füttern.«
Doch er starrte bloß mit leerem Blick auf den Schaltknüppel hinunter. »Ich muss immer daran denken, was wohl geworden wäre, wenn Whelk Gansey heute erschossen hätte.«
Adam hatte diese Vorstellung gar nicht erst zugelassen. Jedes Mal wenn seine Gedanken sich auch nur in diese Richtung bewegten, tat sich etwas Dunkles, Scharfkantiges in ihm auf. Er konnte sich kaum mehr entsinnen, wie das Leben an der Aglionby gewesen war, bevor Gansey gekommen war. Vage Erinnerungen, mühevoll, einsam, stiegen in ihm auf, so viele späte Abende, an denen Adam auf der Treppe vor dem Doppelwohnwagen gesessen, Tränen weggeblinzelt und sich gefragt hatte, warum er es nicht einfach aufgab. Damals, vor kaum mehr als einem Jahr, war er so viel jünger gewesen. »Aber das hat er nicht.«
»Nein«, sagte Ronan.
»Gut, dass du ihm Boxen beigebracht hast.«
»Ich hab ihm bestimmt nicht beigebracht, dass er sich den Daumen brechen soll.«
»Tja, das ist nun mal Gansey. Der lernt immer nur so viel, dass man auf den ersten Blick denkt, er hätte Ahnung.«
»Trottel«, stimmte Ronan zu und war wieder ganz er selbst.
Adam nickte und machte sich bereit für das Unvermeidliche. »Bis morgen dann. Und danke noch mal.«
Ronan wandte den Blick vom Haus in Richtung der Wiese, die schwarz dalag. Seine Hände umklammerten
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