Wen die Erinnerung trügt - Crombie, D: Wen die Erinnerung trügt - Where Memories Lie
Vergeltungsbombardements der Royal Air Force in Deutschland Ausdruck verliehen hatten. Sie konnte dem Prinzip »Auge um Auge, Zahn um Zahn« nichts abgewinnen und sah nur, dass immer weiter Leid auf Leid gehäuft wurde; doch ihre Versuche, zu erklären, dass die deutsche Durchschnittsfamilie ebenso wenig
Einfluss auf dieVerhältnisse hatte wie die Engländer, wurden mit eisiger Ablehnung aufgenommen.
Später, nach dem Krieg, hatte Erika einen Lehrauftrag an der Universität erhalten. Daraufhin hatte sie zunächst die Wohnung und schließlich das ganze Haus gekauft und die drei oberen Stockwerke vermietet. Nie wäre sie auf die Idee gekommen, dass sie irgendwann eine Goldmine besitzen würde – eine Goldmine, die ihr nichts bedeutete, da es niemanden gab, der nach ihrem Tod davon profitieren würde.
Plötzlich schlug der Wind um und trug ihr den erdigen Bauernhof-Geruch des Düngers zu, den der Nachbar verteilte. Er löste eine unerwartete Flut von Erinnerungen aus, bei denen ihr die Galle hochkam. Sie rückte vom Tisch ab, ließ ihren Kaffee unberührt stehen und rieb sich krampfhaft schluckend die brennenden Augen, während sie ins Haus zurückeilte.
Im Wohnzimmer angelangt, blieb sie schwer atmend stehen und hielt sich an einer Stuhllehne fest. Wie war die Brosche ihresVaters von einer deutschen Scheune in ein Auktionshaus in South Kensington gelangt? Und warum bedeutete es ihr so viel, nach so langer Zeit? Es war ein anderes Leben gewesen, und sie war ein anderer Mensch gewesen, eine schattenhafte junge Frau, mit der sie heute kaum noch etwas gemeinsam hatte.
Erika blickte sich im Wohnzimmer um, diesem wunderbaren Kokon, den sie sich gesponnen hatte, und sie erkannte, dass es eine leere Hülse war, eine Fassade, geschaffen, um sich die Vergangenheit vom Leib zu halten.
Aber gestern hatte diese Fassade einen Riss bekommen, der nicht mehr zu kitten war. Sie war dieser jungen Frau aus ferner Vergangenheit die Wahrheit schuldig, und das bedeutete, dass sie die Hilfe, um die sie gebeten hatte, würde annehmen müssen – ganz gleich, wie schwierig es für beide Seiten werden mochte.
»Hier, trink.« Kincaid stellte eine große Tasse heißen Tee auf den Küchentisch. Gemma schien einen Moment zu zögern, ehe sie sich auf den Stuhl sinken ließ und die Finger um den Becher schlang. Kincaid kam mit seiner Teetasse an den Tisch, setzte sich ihr gegenüber und sah sie forschend an.
Sie trug immer noch die Kleider vom Abend zuvor: einen luftigen, zartgrün bedruckten Sommerrock mit dazu passendem perlenbesetzten Jäckchen in Grün und Creme über einem Spitzentop. Aber ihr Make-up war längst verwischt; das Wölkchen von Sommersprossen, das sich über Nase und Wangen zog, zeichnete sich deutlich auf der durchscheinend blassen Haut ab, und eine Kombination aus Erschöpfung und der Mascara vom Vorabend hatte dunkle Schatten unter ihren Augen hinterlassen.
Abwesend griff sie in ihre dichten, kupferfarbenen Haare, die sie seit neuestem kurz trug, um sie wie gewohnt zu einem Zopf zu flechten, doch ihr Griff ging ins Leere. Stirnrunzelnd begnügte sie sich schließlich damit, ein paar verirrte Strähnen hinter die Ohren zu stecken, um dann die Hände wieder um ihre Teetasse zu legen.
Geordie ließ sich mit einem abgrundtiefen Hundeseufzer zu ihren Füßen nieder, und Gemmas Züge entspannten sich ein wenig. »Sind die Jungs schon auf?«, fragte sie, während sie an ihrem Tee nippte.
»Nein, aber es wird nicht mehr lange dauern.Also schieß los.« Es sah ihr gar nicht ähnlich, dass sie ihn nicht aus dem Krankenhaus angerufen hatte, und als er es auf ihrem Handy versucht hatte, war es ausgeschaltet gewesen. Kurz vor Morgengrauen war er schließlich weggedämmert und erst wieder aufgewacht, als es bereits taghell war. Und immer noch war Gemma nicht nach Hause gekommen, immer noch war ihr Handy ausgeschaltet.
Er hatte geduscht und sich angezogen und war gerade nervös in der Küche auf und ab getigert, als sie schließlich aufgetaucht
war. Sie hatte ihn flüchtig umarmt, ohne ihn anzusehen, und dabei gemurmelt: »Sorry, tut mir echt leid, ich hätte anrufen sollen. Aber du weißt ja, dieVorschriften im Krankenhaus – und als ich dann aufgebrochen bin, war ich mir nicht sicher, ob du noch auf bist.« Es war eine fadenscheinige Ausrede, die nur bestätigte, dass sie nicht am Telefon darüber hatte reden wollen. Und das bedeutete schlechte Nachrichten.
Kincaid beugte sich vor, zog eine ihrer Hände von dem Teebecher weg und
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