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Wen die Erinnerung trügt - Crombie, D: Wen die Erinnerung trügt - Where Memories Lie

Wen die Erinnerung trügt - Crombie, D: Wen die Erinnerung trügt - Where Memories Lie

Titel: Wen die Erinnerung trügt - Crombie, D: Wen die Erinnerung trügt - Where Memories Lie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deborah Crombie
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treten. Aber George fuhr bereits los, und anstatt ihn zu treffen, verlor er nur das Gleichgewicht. »Blöde Arschlöcher«, murmelte er und wankte einen Moment lang bedenklich, ehe er sich wieder fing, den Gitarrenkoffer wie ein Baby an die Brust gedrückt.
    Vielleicht wurde es Zeit, dass er sich nach einer anderen Band umsah – nach einer, die ernsthaft Musik machen wollte. Und vielleicht hatte er auch ein bisschen mehr getrunken, als er gedacht hatte, stellte er fest, als er die schmale Straße entlangwankte, vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend. Man muss schließlich aufpassen, wo man hintritt, die Leute schmeißen ja ihren verdammten Müll weg, wo sie gerade stehen und gehen. Er war schon über eine McDonald’s-Tüte, eine zerbrochene Bierflasche und eine verdächtig nach Urin stinkende Pfütze gestiegen, als er gleich hinter der Biegung einen großen schwarzen Plastik-Müllsack mitten auf der Fahrbahn liegen sah. Schlimmer noch, einen offenen Müllsack, aus dem schon der Abfall herausquoll. Aber die Form war merkwürdig – der Sack schien Arme und Beine zu haben, bloß dass sie irgendwie im falschen Winkel angesetzt waren.
    Andy verlangsamte seinen Schritt, kniff angestrengt die Augen zusammen und ärgerte sich, dass er aus Eitelkeit bei Auftritten nie seine Brille trug. Als er vor dem Bündel stand, stupste er es mit der Schuhspitze an und stellte fest, dass es ziemlich schwer, aber auch irgendwie weich war – und dann setzte das unförmige Etwas sich plötzlich zu einer menschlichen Gestalt zusammen, einem Mann mit dunklem Anzug, der reglos auf der Straße lag. Ein Betrunkener, dachte Andy mit seinem benebelten Hirn, aber kein normaler Mensch konnte so daliegen, auch wenn er so sternhagelvoll war, dass er bewusstlos zusammenbrach. Und das Gesicht – das Gesicht war von ihm abgewandt, aber
er konnte sehen, dass mit der Form auch etwas nicht stimmte, als wäre es von einer Riesenhand zerdrückt worden. Und was das Schlimmste war – so entstellt es war, es war ein Gesicht, das Andy wiedererkannte.
    Du lieber Gott. Andy wich zurück, bis er mit den Absätzen gegen den Bordstein stieß, landete unsanft auf dem Hintern und kotzte voll über seinen Stratocaster-Koffer.

13
    Bei zahlreichen Gelegenheiten während der Dreißigerjahre – auch noch nach der »Reichskristallnacht« – kamen Beobachter aus britischen Diplomatenkreisen zu dem Schluss, dass die Gewalt gegen Juden ihren Höhepunkt überschritten habe.
     
    Louise London, Whitehall and the Jews, 1933-1948
    Noch lange, nachdem Vi eingeschlafen war, hatte Gemma an ihrem Bett gesessen und ihr Gesicht beobachtet, ihre ungewohnt entspannten Züge.Wann hatte sie je ihrer Mutter beim Schlafen zugesehen, das leise Zucken der Lider registriert, das eine Traumphase signalisierte, und sich gefragt, wovon sie wohl gerade träumte?
    Was wusste sie von den Erinnerungen und den Sehnsüchten ihrer Mutter, von ihrem Leben jenseits der Alltagsroutine von Ehemann, Kindern und Arbeit? Hatte ihre Mutter sich ein anderes Leben erträumt – Abenteuer, die sie nie erlebt hatte, mit einem Ehemann oder einem Geliebten, der mehr erwartete als nur häusliche Geborgenheit und seine regelmäßigen Mahlzeiten?
    Selbst jetzt, als Gemma im Bett lag und den Lichtkegel beobachtete, den die frühe Morgensonne an die Wand gegenüber warf, während sie sich von Geordie die Füße wärmen ließ, spürte sie eine innere Unruhe, die tiefer ging als alle Sorgen wegen Krebs und Therapien, auch wenn das alles schon schlimm genug war.

    Gestern Abend hatte sie bei ihrer Mutter eine Resignation gespürt, die ihr Angst machte. Was, wenn sie gar nicht gegen diese Krankheit ankämpfen wollte ? Konnte diese Frau, die sich scheinbar von nichts unterkriegen ließ, sie denn einfach so verlassen? Sich davonstehlen und Gemma mit dem Gefühl zurücklassen, ihre Mutter nie wirklich gekannt zu haben? Und würden ihre eigenen Kinder eines Tages das Gleiche von ihr denken?
    Sie konnte die Stimmen der Jungen hören, die von unten heraufdrangen, den üblichen Morgenmix aus Gelächter und Gequengel. Sie hatten schon geschlafen, als Gemma am Abend nach Hause gekommen war, und heute Morgen war Duncan früh aufgestanden und hatte ihr ins Ohr geflüstert, sie solle ruhig ausschlafen, er würde die Jungs für die Schule fertig machen.
    Aber plötzlich hielt es sie nicht mehr im Bett. Sie wollte sich in das Chaos und die Hektik stürzen und die Zeit mit den Kindern verbringen, die ihr in den letzten Tagen

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