Wen die Götter lieben: Historischer Roman (German Edition)
anschauen konnte.
»Aber warum wollte Nevitta ihn nicht mitnehmen?«, sagte er schließlich und sah mich an. »Rufus ist unglücklich, das ist ihm deutlich anzusehen. Der Wechsel hätte ihm gutgetan.«
»Nevitta sagt, seine Leute müssten sich auf den Marsch nach Osten vorbereiten. Aber in Wirklichkeit ist er schlechter Laune wegen Libino und lässt es an den anderen aus, besonders an Rufus. Er denkt, dass Libinos Versagen auf ihn zurückfällt.«
»So ist es ja auch.«
»Ich weiß. Aber wie üblich akzeptiert Julian seine Ausflüchte.«
Ich wollte noch mehr sagen, aber ein Geräusch ließ mich herumfahren.
In der halb offenen Tür stand ein Sklave, der ein Tablett mit einer Schüssel Brühe und einem Laib Brot brachte. Ich hatte selbst danach geschickt, doch nun fluchte ich im Stillen, weil ich mich nicht nach Lauschern umgeschaut hatte, bevor ich mich zu der Sache geäußert hatte. Es war nicht klug, über Nevitta zu reden, wo andere es hören konnten, und sei es nur ein Küchenjunge.
Ich nahm das Tablett und schickte den Diener weg. Danach sprachen wir von anderen Dingen.
Tage vergingen. Die Farbe der Haut an Marcellus’ Seite wechselte von Violett zu Blau und Grau; ein neues grausamesAndenken an den Krieg neben der weißen Narbe am Unterarm, dem alten Schnitt an der Wade dicht unterhalb der Kniekehle und dem Kratzer von einem Pfeil unterhalb des linken Ohrs. Es waren Mahnungen an mich, dass Marcellus sterblich war – als könnte ich das jemals vergessen!
Eines Abends stieg ich heimlich ein zweites Mal den Weg hinter dem Theater hinauf zu der alten Zitadelle auf dem Hügel, wo die alten verwahrlosten Tempel stehen, und dankte den Göttern, dass er noch lebte.
Ich hatte ihn vom Knaben zum Mann werden sehen. Seine Schultermuskeln waren stark und fest geworden, seine Arme mit dem blonden Flaum gekräftigt vom Schwertkampf und Speerwerfen. In der Schlacht hatte er zähes Durchhalten gelernt, wie wir alle; manchmal merkte ich ihm bei Kleinigkeiten an, dass die Strenge seines Großvaters in ihm steckte – etwa an der kühlen Distanz gegenüber Leuten, die er nicht leiden konnte, oder an seiner Unduldsamkeit gegenüber niederträchtigem und unehrenhaftem Verhalten. Ich konnte es verstehen, denn beides hatten wir zur Genüge erlebt.
Mir gegenüber hatte er sich nicht verändert; da zeigte er Sanftheit und das Verlangen nach Liebe. Und wie damals, als ich ihm zum ersten Mal begegnete, fuhr er sich stirnrunzelnd durchs Haar, wenn ihn etwas beunruhigte und seine Gedanken in Anspruch nahm. Und jetzt, zu Frühlingsanfang, begann die Sonne ihren alljährlichen Zauber, indem sie seine bronzenen Locken vergoldete. Er hatte nichts von seiner Anmut, von seiner kraftvollen Schönheit verloren; er war noch immer der Jüngling von damals – klug, großmütig und fehlerlos.
Ich war nicht der Einzige, der dies an Marcellus bemerkte. Er war unter den Soldaten wohl gelitten und hatte viele Freunde, auch Verehrer; es hatte Zeiten gegeben, in denen Männer und Frauen ihr Glück bei ihm versuchten. Was daraus wurde, habe ich ihn nie gefragt. In den wirklich wichtigen Dingen habe ich nie an ihm gezweifelt; seine Freundschaft war die Felssohlemeines Lebens. Er hatte mir ungeahnten Reichtum beschert. Auf solche Weise berühren die Götter das Leben der Menschen und lassen ihre Gegenwart erkennen.
Nach zehn Tagen Bettruhe erklärte der Arzt, Marcellus könne gefahrlos aufstehen, und kurz darauf saß er wieder im Sattel. Wir ritten zusammen über die Bergwiesen oberhalb der Stadt, wo die Luft frisch und kühl war, und eine Zeit lang vergaßen wir die dunklen Wolken, die jenseits der Alpen aufzogen.
Der Hieb hatte ihn an der schwachen Stelle in der Seite getroffen, wo er schon einmal verwundet worden war. Hätte die Klinge ihn einen Fingerbreit höher erwischt, sagte mir der Arzt in nüchternem Ton, wäre er in den Hügeln Rätiens gestorben. Dieser Gefahr waren wir alle ausgesetzt, das war mir klar, und ich behielt meine Befürchtungen für mich, damit sie nicht Macht erlangten, indem ich sie aussprach.
Ich brauchte diese Zweisamkeit mit Marcellus. Ich nahm unser Zusammensein, als könnte es gar nicht anders sein. Und wie auch? Dennoch war mir, als hätte der Tod mich mit kalter Hand an der Schulter berührt und gesagt: Bedenke, dass ich in der Nähe bin, Drusus! Jeder Tag wird von mir verliehen, und ich bin unerbittlich.
Bei seiner Rückkehr aus Rätien erzählte Julian, er habe von Hermes geträumt, der ihm ankündigte, dass
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