Wen die Götter lieben: Historischer Roman (German Edition)
ich dachte, wir wären ihn los.« Er klang düster und zornig.
»Ich auch. Aber jetzt wissen wir es besser.«
Ich dachte an den Tag zurück, wo ich den furchteinflößenden Mann mit der steinernen Miene als Gefangenen in London auf ein Schiff gebracht hatte, damit er sich für seine Verbrechen vor dem Kaiser verantwortete. Er hatte die Provinz Britannien mit seinen Verratsanklagen entzweit. Sich selbst stellte er dabei über das Gesetz, wie alle schwarz gekleideten Geheimagenten des Kaisers es taten. Marcellus, sein Großvater Aquinus und ich waren ihm schließlich entgegengetreten und hatten dafür gesorgt, dass er aus dem Land gejagt wurde. An jenem Tag am Kai von London hatte er mit einer Stimme, bei der mir das Herz gefror, zu mir gesagt, ich solle hoffen, ihn nie wiederzusehen. Und jetzt war er frei und wieder zu Macht und Einfluss gelangt. So also ist es um die kaiserliche Gerechtigkeit bestellt, dachte ich.
Ich löste den Blick von dem wirbelnden Wasser und schaute in Marcellus’ Gesicht; dann deutete ich nach Süden auf die hügelige grüne Landschaft mit den kahlen Obstbäumen, alten Einfriedungen und schwarzen Weinstöcken an den Hängen. »Er mag von Trier geflohen sein, aber er ist auf freiem Fuß, und der Kaiser hat ihm seine Verbrechen vergeben, oder sie sind ihm gleichgültig.«
Marcellus ballte ein paarmal die Faust, dass die Sehnen am Handgelenk hervortraten. Dann fuhr er sich mit den Fingern durch seinen dichten Schopf, wie er es immer unbewusst tat, wenn ihn etwas beunruhigte. Seine Haare zeigten das schimmernde Braun alter Bronze, das sie jeden Winter bekamen.
»Ich will nicht wie ein Tier im Käfig leben.«
Ich nickte. »Ich weiß.« Das war einer seiner Charakterzüge und einer der Gründe, weshalb ich ihn liebte.
»Wenn wir heimreisen, Drusus, werden wir nie ruhig leben.Wir werden nie wissen, ob er uns holen kommt, er und seine Spitzel und dieser Faustus, der wie ein Dieb im Schatten lauert und darauf wartet, dass unsere Wachsamkeit nachlässt. Er hasst uns zu sehr, als dass er vergisst. Bei jedem fremden Besucher, bei jedem Geräusch in dunkler Nacht …« Er stockte und zog die Brauen zusammen. »Ich frage mich, was Großvater getan hätte.«
Diese Überlegung hatte ich auch schon angestellt. Aquinus war seiner Ehre treu geblieben und hatte getan, was einem edlen Mann geziemt. Nun war er tot, doch sein Vorbild stand uns im Gedächtnis. Er hatte sich nicht bezwingen lassen, weder körperlich noch geistig.
»Dann müssen wir die Sache weiterverfolgen bis zu ihrem Ende, wo immer es uns hinführt.«
Marcellus nickte bedächtig und schaute den Fluss hinunter.
Es war ein grauer Tag gewesen. Doch jetzt kam doch noch die Sonne durch und breitete ein Band aus Purpur und leuchtendem Orange über das regendurchweichte Land.
»Eutherius hat etwas an sich, das mir gefällt«, bemerkte er nach einer Weile. »Er mag sich kleiden wie ein Pfau und sich mit Parfüm tränken, aber er ist kein Dummkopf. Ich vertraue ihm. Du nicht auch? Wenn er so viel von diesem neuen Cäsar hält, sollten wir vielleicht warten und uns ein eigenes Urteil bilden.«
Trauer kann viele Gesichter haben, wie ich in der darauffolgenden Zeit erfuhr.
Manche Menschen weinen und raufen sich die Haare aus; dann ist der Schmerz so schnell vorbei wie ein Sommergewitter. Es ist die Trauer, wie wir sie im Theater sehen: große Gebärden und viel Lärm, damit die Leute gebannt zuschauen. Doch selbst junge Menschen wissen, dass es noch eine andere Art der Trauer gibt. Sie sitzt im Herzen und schwelt dort unbemerkt wie ein mit Sand bedecktes Lagerfeuer.
Marcellus hatte seinen Großvater sehr geliebt. Da sein Vater in jungen Jahren gestorben war, hatte Aquinus ihn zu dem Mann erzogen, der er war, und durch sein Beispiel jeden guten, frommen und edlen Zug an ihm geformt. Nachdem die letzte kurze Krankheit Aquinus’ Tod herbeigeführt hatte, hatte Marcellus sich gezwungenermaßen auf seine Pflicht besonnen. Doch er dachte viel an Aquinus, an seine kühle Mutter, an das Gut, die Knechte, den ganzen Haushalt. Alle blickten nun auf ihn, Marcellus, und legten die Bürde ihrer Bedürfnisse auf seine Schultern. Und er trug sie, weil es seine Natur war, so wie Atlas die Welt trägt.
Er war einundzwanzig Jahre alt. Wir hatten gemeinsam gekämpft und uns geliebt, und als ich sah, dass er keinen Anstoß nahm, schaute ich nicht tiefer. Ich sah nicht, was es ihn kostete. Aber jetzt nahm ich eine Veränderung wahr, das erste Aufzüngeln des
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