Wen die Götter lieben: Historischer Roman (German Edition)
den Mann nicht gesehen, sodass ich keinen persönlichen Eindruck geben kann. Aber der Stallmeister sagte, er sei überaus unruhig gewesen, als er erfuhr, dass Lupicinus nicht in London ist. Zunächst habe ich mir nichts dabei gedacht, doch nun erscheint es mir doch recht merkwürdig, da in Paris ja bekannt sein muss, dass Lupicinus London schon vor einiger Zeit verlassen hat.«
»Dürfen wir den Stallmeister persönlich befragen?«, bat Marcellus.
»Aber ja, natürlich.« Er winkte einen Diener heran und befahl ihm, uns zu den Ställen zu bringen. Als wir mit ihm zur Tür gingen, sagte er in vertraulichem Ton: »Ich hoffe, Julian … Ich meine, der Cäsar, oder vielmehr der Augustus … wird nicht glauben …«
»Der Mann hat dich belogen, denn das solltest du nicht erfahren«, sagte ich. »Aber jetzt müssen wir uns beeilen, damit wir diesen Kurier einholen, bevor er bei Lupicinus ankommt.«
Wir gingen nach draußen und über den Hof mit seinem Wasser speienden Neptunbrunnen, wo ich einst als Waise gesessen und überlegt hatte, ob ich Gratianus’ Angebot annehmen sollte, ins Heer einzutreten. »Ja«, sagte der Stallmeister, »ich erinnere mich genau an den Mann.« Er beschrieb sein Aussehen und fügte hinzu: »Er war keiner der gewöhnlichen Kuriere. Die kenne ich alle. Außerdem lehnte er es ab, sich von einem anderen Boten ablösen zu lassen, und behauptete, den Brief persönlich überbringen zu müssen.«
Inzwischen wurden die ersten Lampen angezündet, da es Abend wurde. Wir fragten nach der Route und ähnlichen Dingen, und nachdem wir Anweisung erteilt hatten, uns vor dem Morgengrauen Pferde zu satteln, gingen wir, um uns zu waschen und eine Mahlzeit einzunehmen.
Als wir später in einer Schenke saßen, die wir von früher kannten, sagte ich zu Marcellus: »Vielleicht kommen wir zu spät. Wenn er Lupicinus erreicht, ist das Spiel aus.«
Marcellus nickte. »Aber es könnte sein, dass er nicht weiß, was in dem Brief steht. Dann können wir ihn vielleicht davon abbringen.« Er blickte mir in die Augen und sagte nach kurzem Zögern: »Wenn nicht, werden wir ihn töten müssen.«
»Ja«, sagte ich.
Darüber hatte ich schon nachgedacht.
Beim ersten Morgengrauen brachen wir auf und trieben unsere Pferde, die wir unterwegs wechselten, hart an. Bei einer düsteren Siedlung namens Letocetum holten wir den Kurier ein.
Von Westen her war Regen aufgekommen, und so trafen wir nass und durchgefroren bei der Wechselstation ein. Doch wir hatten einiges zu erledigen. Ich kümmerte mich um die Absprachen mit dem Wirt, während Marcellus sich unter den Stallburschen umhörte.
Bei jeder Station waren wir unserer Beute ein Stück näher gekommen. Wir reisten ohne Eskorte und hatten unsere Rangabzeichen entfernt, da sich niemand gern mit einem Tribun auf eine Plauderei einlässt. Mit einem gemeinen Soldaten will sich dagegen jeder müßige Trinker die Zeit vertreiben, erst recht, wenn der ihm einen Krug Wein spendiert.
Und so erfuhren wir über vielen sauren Bechern, während wir eigentlich hundemüde waren und nur ins Bett wollten, dass unser Mann eine Schwäche hatte: Er besuchte nämlich auf Kosten des Kaisers die Bordelle, die er unterwegs fand. Und da ihn niemand drängte, erlaubte er sich, nach seinen nächtlichen Vergnügungen lange zu schlafen. Dadurch holten wir jeden Tag ein Stück auf. Nachdem er uns eine Weile hartnäckig entwischt war, holten wir ihn endlich in Letocetum ein, da sein Pferd lahmte und kein Ersatztier verfügbar war.
Vom Zimmermädchen hörten wir, dass er gerade nicht in seinem Zimmer war. Wir gingen zu dem kleinen Badehaus nebenan, doch der Diener erklärte, es gebe Schwierigkeiten mit den Rohrleitungen, und das Bad sei deshalb geschlossen. Danach gingen wir die Hauptstraße entlang und schauten in die Schenken und die billigen Speisehäuser, von denen es in Letocetum ziemlich viele gibt. Als wir schon glaubten, wir müssten in jede Hurenkammer spähen, zupfte Marcellus mich am Ärmel und deutete mit dem Kopf auf eine unbeleuchtete Ecke. »Da drüben!«, raunte er.
Beiläufig, als wollte ich unsere Umgebung in Augenschein nehmen, blickte ich in die gewiesene Richtung. Im Halbdunkel saß ein Mann in einem dicken Mantel allein an einem Tisch, vor sich einen Becher und einen Krug.
Wir nahmen unseren Wein und schlenderten über den sägemehlbestreuten Boden zu der Ecke hinüber. »Sei gegrüßt, Freund!«, sagte ich mit breitem Lächeln. »Sind wir uns nicht schon einmal begegnet?«
Der
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