Wen die schwarze Göttin ruft
Huber lehnte sich an eine Felsennase und wischte sich über die Augen. Das ist nicht wahr, sagte er sich und reagierte so wie jeder moderne Mensch. So etwas gibt es nicht!
Er schloß die Augen, er riß sie wieder auf, aber das Bild blieb. Er hörte den Lärm auf den Straßen, all das Gewirr von Tönen, aus dem das Leben besteht. Und dann sah er die hohe Tempelmauer, die Stadt wie ein Schild beherrschend, und hoch oben an der Mauer vier winzige, schwarze Käfige, in denen etwas herumkroch, das an gefangene Käfer erinnerte. Sein Herz wollte fast versagen. Die Stadt begann sich vor seinen Augen zu drehen.
Das sind sie, durchfuhr es ihn. Dort ist Veronika. Ich weiß es, auch wenn ich sie nicht erkenne. Sie hängt über der Stadt. In einem Käfig wie ein seltenes, gefährliches Tier …
11
Die fremden Menschen, die an ihm vorbeigingen, blickten ihn kurz und, wie es schien, auch verwundert an. Um nicht aufzufallen, ging Alex weiter, den Lederhelm mit dem Nasenschutz tief ins Gesicht gezogen. Etwas ganz Verrücktes fiel ihm auf diesem Weg in die Stadt ein: Wie benimmt sich ein Soldat in diesem sagenhaften Land, wenn er einem Vorgesetzten begegnet? Grüßt er ihn, wie alle Soldaten der Welt ihre Offiziere, und wie grüßt er ihn? Woran erkennt man die Vorgesetzten? Hier war die erste Möglichkeit, sich zu verraten.
Er strengte sein Gedächtnis an und stellte sich beim ersten Haus an die Wand, abseits der Straße. Wie sahen die Offiziere aus, die an der Spitze der Marschkolonne gegangen waren? Hatten sie Zeichen an ihrer Lederschuppen-Uniform, eine andere Kopfbedeckung? Er konnte sich nicht daran erinnern. Er war von dem Anblick so fasziniert gewesen, daß er auf diese Unterschiede nicht achtete.
Jetzt tastete er sich vorsichtig durch die phantastische Stadt. Er vermied die breiten Straßen, ging durch die verwinkelten, verschachtelten Gassen, blickte stolz über die anderen Bewohner hinweg – in der verzweifelten Hoffnung, daß auch hier eine Uniform den Träger vom ›gemeinen Zivilisten‹ abhebt, wie es überall der Fall ist, wo ein Staat sich auf die Macht des Militärs verläßt. Er schien richtig zu denken, denn niemand sprach ihn an, die Frauen machten ihm Platz auf den engen Gassen, die Kinder sahen ihn fast mit Scheu an. An eines aber dachte er nicht: Er trug in der rechten Hand seine Arzttasche, und das war etwas so Ungewöhnliches für die Menschen von Urapa, daß sie ihn für einen Kurier hielten, der eine unbekannte Eroberung zum Kommandanten brachte.
Sein Ziel konnte er nicht verfehlen. Die riesige Tempelmauer war das Wahrzeichen der Stadt. Wo man auch stand, man sah sie immer. Sie war der Mittelpunkt dieser eigenen kleinen Welt, ein Sitz der Götter, die immer gegenwärtig waren.
Und an der Mauer hingen die vier Käfige. Jetzt sah er sie deutlicher, und er erkannte die Menschen hinter den eisernen Gittern. Eine Frau war dabei. Sie saß auf dem Boden des Käfigs und schien etwas zu sich zu nehmen. Veronika.
Als er den großen Platz erreichte, den Palast und Tempel umgrenzten, war sein Weg zu Ende. Unterhalb der Mauer standen die Wachen. Ein ständiges Kommen und Gehen am unteren Tempel verhinderte ein weiteres Vordringen. Ganz oben, im heiligsten Bezirk, schwebte eine dünne weiße Rauchwolke über der Spitze der Pyramide: das ewige Feuer zu Ehren der Sonne.
Er starrte hinauf zu den Käfigen. Die Menschen hinter den Gitterstäben bewegten sich wie fremde Wesen. Sie waren so weit von der Erde entfernt, daß man ihre Gesichter nicht erkennen konnte. Einer von ihnen rüttelte jetzt an den Gittern – es war Albert Heimbach, der seine Verzweiflungs- und Angstschreie ausstieß –, aber hier unten hörte man seine Stimme nicht.
Auch Alex Huber spürte jetzt, wie sich in ihm eine Art Panik ausbreitete. Bloß das nicht, dachte er. Keine Unüberlegtheiten! Ruhe, mein Junge, Ruhe, auch wenn dort oben Veronika wie ein seltenes Tier hängt, auch wenn das alles hier nicht nur phantastisch, unwirklich, sondern auch bis zur Unerträglichkeit grausam ist! Nicht die Nerven verlieren! Du bist der einzige, der sie retten kann, auch wenn du nicht weißt, wie du das jemals erreichen kannst.
An die Käfige kommt keiner heran! Es gibt kein sichereres Gefängnis! Wie lange hängen sie schon an der riesigen Tempelmauer? Vom ersten Tage an? Und sie sind noch nicht wahnsinnig geworden?
Er starrte zu den Käfigen empor, hinter einer niedrigen Wand stehend, die einen kleinen Garten von einem Haus trennte. Aus dem Haus kam
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