Wen die schwarze Göttin ruft
schwebend, wie aus eisigen Zonen. Töne einer Sprache, die vielleicht wie eine Melodie klang, wenn sie nicht von dieser kalten Stimme käme.
Dombono legte die Hände flach über die Brust, und Huber wandte sich um. In der goldenen Wand strahlte ein Lichtfleck, so hell, daß er wie geblendet die Augen zusammenkniff. Aber er erkannte noch, daß in dem gleißenden Licht eine Frauengestalt stand, der Sonne ähnlicher als einem Menschen.
Der Junge auf dem Bett richtete sich auf. Das Licht in der Wand erlosch. Huber starrte dorthin, wo gerade noch die Göttin von Urapa gestanden hatte. Und dort war nichts als eine goldene Wand, übersät mit Bildern aus Urapas Historie.
»Sikinophis wird aufstehen«, sagte Dombono finster. »Sein Anblick verbindet Ihr Leben mit …«
»Das wird langsam langweilig!« Alex Huber winkte ab. »Ich kenne jetzt das Ritual zur Genüge! Ihre Königin scheint die einzig Vernünftige zu sein. Ich möchte nachher mit ihr sprechen.«
»Wenn sie will!«
»Ich glaube kaum, daß eine Mutter nicht interessiert, was ihr Kind hat. Ich habe als Arzt mit ihr zu reden. Allein!«
Dombonos Augen blitzten. Aha, dachte Huber. So ist das hier. Eigentlich nicht viel anders als bei uns. Der Futterneid der Ärzte. Dombono ist hier der ›Ordinarius‹, seine Lehrmeinung gilt. Jetzt kommt ein anderer und sagt etwas anderes, und schon bricht der medizinische Krieg aus. Wie immer auf Kosten der Patienten. Darin ist dieses Urapa ein völlig moderner Staat. Alle Ärzte könnten Brüder sein.
»Er steht!« sagte Dombono mit einem bösen Unterton.
Huber wandte sich um. Sikinophis stand neben seinem Bett, Kopf und Körper noch immer verhüllt von dem goldenen Schleier. Er hatte die Größe eines vierzehnjährigen Jungen und schien hinter seinem glitzernden Vorhang den neuen fremden Arzt aufmerksam zu mustern.
»Kann man mit ihm reden?«
»Er spricht Französisch.«
Ein neues Rätsel. Huber trat einen Schritt vor. Der Junge straffte sich, hielt sich aber noch an der Bettkante fest.
»Ich habe keine Ahnung, wie man Prinzen anredet«, sagte Huber auf französisch. »Bleiben wir bei meiner Art. Wie alt bist du?«
Dombono zuckte zusammen. Er sagt einfach DU zu ihm! Er spricht ihn an wie einen Gassenjungen. Dafür müßte er sofort mit seinem Kopfe büßen.
»Fünfzehn!« antwortete Sikinophis. Seine Stimme war an der Grenze zwischen Kind und Mann. Stimmbruch, konstatierte Huber nüchtern. Also auch da ist er normal. Und von diesem Augenblick an war er nur Arzt. Er befand sich nicht mehr in der phantastischen Stadt Urapa, stand nicht in einem goldenen Raum einem Gott gegenüber, sondern vor ihm stützte sich ein Kind gegen ein Bett, ein krankes Kind, das eine Knochenwucherung am rechten Oberschenkel und unerträgliche Schmerzen hatte. Ein ›Fall‹, um medizinisch zu denken. Mehr nicht.
»Kannst du gehen?«
»Schlecht.«
»Versuch es. Wenn es sehr weh tut, bleib stehen!«
Der Junge machte ein paar Schritte. Er hinkte dabei, blieb dann abrupt stehen und schien zu schwanken. Huber sprang zu ihm und hielt ihn fest. Jetzt habe ich ihn berührt, durchfuhr es ihn. Jetzt ist mein Leben sein Leben oder umgekehrt. Es gibt in diesem Fall kein Zurück mehr.
»Hast du große Schmerzen?«
»Ja«, kam es kläglich unter dem goldenen Schleier hervor.
»Leg dich wieder hin.« Er führte Sikinophis zum Bett zurück und half ihm hinauf. Dann entblößte er den Unterkörper des Jungen.
Doktor Stricker hatte recht. Deutlich war der Knochenauswuchs nahe am Gelenk zu spüren – ein fester, dicker Knoten, bereits so groß wie eine Säuglingsfaust. Jetzt röntgen können, dachte Huber. Das wird sich Stricker auch gewünscht haben. So muß ich auf gut Glück aufmachen. Ist es kein Osteom, haben wir Pech gehabt. Aber einen anderen Weg als die Operation gibt es nicht.
»Was ist es?« fragte der Junge. »Muß das Bein weg?«
»Das wollen wir nicht hoffen.« Ich möchte sein Gesicht sehen, dachte Huber dabei. Ich möchte sehen, wen ich da unters Skalpell bekomme. Ich will kein Stück Fleisch aufschneiden – ich muß mit dem Menschen unter meinem Messer einen Kontakt haben. Vielleicht ist das altmodisch, aber ich bin nun mal so.
Mit einem Ruck riß er den goldenen Schleier vom Gesicht des Jungen. Im Hintergrund stöhnte Dombono dumpf auf. Es gab keine größere Entweihung eines Gottes.
Huber ließ betroffen den Schleier fallen. Vor ihm lag ein Kind mit fast weißer Hautfarbe und blauen Augen. Ein schönes Gesicht, umrahmt von
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