Wen küss ich und wenn ja, wie viele? - Lilias Tagebuch
Kindern nicht immer helfen. Da muss ein Lurch halt durch.« Das war Jakob. Er lächelte, dann streichelte er mit einem Finger einen Grashalm weg, der auf meiner Schulter gelegen hatte.
Ich löste meinen Blick von Rosalie und sah wieder auf Jakobs Lippen.
»Du bist süß«, murmelte er, rückte näher und setzte sich neben mich. Über seine Schulter hinweg sah ich Rosalie. Und die hatte jetzt wirklich ein Problem. Der Größte der drei Jungs schubste sie gerade und sie plumpste auf ihr Hinterteil. Im Sand konnte das nicht wehgetan haben und tatsächlich, sie weinte nicht. Trotzdem. Es reichte. Ich stand auf und ging ganz langsam auf den Sandkasten zu. Wäre ich ein Tier gewesen, mein Fell hätte sich im Nacken gesträubt. Ich war mir nicht sicher, ob ich leise fauchte. Auf jeden Fall machte ich die Augen zu Schlitzen und stellte mich vor die drei Jungs. »Verschwindet, ihr Kackbratzen«, sagte ich ganz leise. »Das ist kein artgerechtes Verhalten! Jungtiere genießen Welpenschutz!«
Der Große lachte nur. »Na gut, wenn du das nicht verstehst, dann formuliere ich es anders«, sagte ich, ging einen Schritt auf ihn zu und trat ihm dabei auf die Zehen. »Bei drei seid ihr weg oder ihr könnt mit gebrochenen Fingern eure Zähne einsammeln. Eins!«
»Da haben wir aber Angst«, sagte der Große und kickte Sand in meine Richtung.
»Zwei!«, sagte ich noch leiser. Und dann fletschte ich die Zähne und knurrte.
»Die spinnt ja! Kommt Jungs!« Der Große drehte ab.
»Drei«, sagte ich. Weg war er.
Ich nahm Rosalie an der Hand, drehte mich um und ging zurück zu meinem Platz.
»Das war eigentlich dein Job!«, sagte ich zu Jakob.
Dann zog ich die Rosine an ihm vorbei zum Becken und sprang zusammen mit ihr vom Rand ins Wasser. Direkt vor den Augen des Bademeisters. Direkt neben dem Schild mit der Aufschrift »Vom Beckenrand springen verboten«.
Wenn ich das so aufschreibe, klingt es, als wäre ich in dieser Geschichte die coole Heldin. Und irgendwie war ich das ja auch. So wütend und dabei so leise bin ich sonst nie. Und diese Wirkung habe ich sonst auch nie auf kleine Nervkröten.
Ich fühle mich aber gar nicht cool. Im Gegenteil. Es ätzt mich so an, dass ich nie Zeit habe für mein Liebesleben. Endlich ein heißer Flirt mit Jakob und ausgerechnet in diesem Moment kommt Rosalie und braucht mich. Ihr zu helfen war das Letzte, auf das ich in dieser Situation Bock hatte. Dafür schäme ich mich richtig. Aber eigentlich sehe ich auch wieder nicht ein, dass ich mich schäme. Ich bin doch nicht Rosalies Mutter, ich bin nicht dafür verantwortlich, sie ständig überall rauszuhauen.
Und Jakob – der kam bei der Sache auch nicht wirklich gut weg.
Bin traurig.
Muss jetzt mit Paps reden. Schreibe später weiter.
20.00 Uhr Erstens: Es stimmt, Flocke will nach dem Abi für ein Jahr nach Australien. Zweitens: Mama hat ein Stipendium für Übersetzer bekommen und wird drei Monate lang auf irgendeiner Nordseeinsel mit lauter Schriftstellern und Dichtern und Übersetzern in einem Haus wohnen und sich ganzihrer »Kunst« widmen. Und so lange soll Paps hier den Laden schmeißen, er arbeitet ja sowieso überwiegend zu Hause und hat in sechs Wochen auch noch Semesterferien, da muss er gar nicht mehr an die Uni.
Wie verabredet habe ich Paps mit glühenden Worten ausgemalt, wie einsam und verlassen Rosalie sich fühlt. Und dass sie sich ein Haustier wünscht, weil das ihre Einsamkeit vertreiben würde. Ein Übergangsobjekt. Am besten einen Hund, weil der wirklich ein Familienmitglied und ein Kamerad sein kann. Rosalie saß bei diesem Gespräch schon wieder mit Kopfhörern vor der Flimmerkiste. Sie tat, als wäre die Welt vor lauter Sandmännchen für sie nicht vorhanden, aber als Paps nicht hinsah, hob sie den Daumen und zwinkerte mir zu.
Paps war völlig überfordert. Er murmelte, ein Kaninchen sei doch auch ein nettes Tier.
»Die beißen«, konterte ich, »und dann wird’s noch schlimmer, dann fühlt Rosalie sich zurückgewiesen.«
»Ein Hamster?«
»Oh, oh, ganz verkehrt. Hat in etwa die Lebenserwartung einer Eintagsfliege, und wenn er stirbt – ich will es mir gar nicht vorstellen. Dann muss Rosalie auf die Psycho-Couch!«
»Könntest nicht du das Übergangsobjekt sein?«, fragte Paps. Toll. Ein Kaninchen, ein Hamster oder ich!
»Na hör mal, Paps, das kann ja wohl nicht dein Ernst sein!«
Er schrumpfte sichtlich zusammen und seufzte, er würde darüber nachdenken. Das war immerhin ein Etappensieg.
Rosalies Augen
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