Wen küss ich und wenn ja, wie viele? - Lilias Tagebuch
röhrte und stieß Qualmwolken aus. Darauf saß eine rabenschwarze Gestalt mit Marsmännchenkopf. Der Alien nahm den Helm ab und entpuppte sich als – Tom.
Hatte der einen Knall? Schlafende Eltern soll man nicht wecken! Ich spuckte das Gummi aus, ließ die Haare offen, schnappte meinen Rucksack und schoss aus der Haustür. »Geht’s auch ein bisschen leiser?«, brüllte ich gegen das Tockern des Motors an. Tom ließ die Maschine noch einmal aufheulen, bevor das Geräusch erstarb. Jetzt war es still.
»Sag mal, spinnst du?« Ich stemmte die Hände in die Hüften.
»Dir auch einen wunderschönen guten Morgen!« Er lachte übers ganze Gesicht. »Das ist das neue Baby von Felix. Es braucht ein bisschen Bewegung, so lange er nicht da ist.« Tom streichelte der Heuschrecke zärtlich über den Tank. In seinen Augen sah ich Sehnsucht.
Klar, so eine Maschine hätte er auch gern gehabt. Aber das konnte er vergessen, er hatte ja gerade sein gesamtes Erspartes in den Motorradführerschein gesteckt. Bis er sich ein gebrauchtes Bike würde kaufen können, musste er noch monatelang jobben.
Jetzt kratzte Tom mit dem Fingernagel eine tote Mücke vom Rückspiegel des Motorrads. »Ich dachte, das Bike könnte dir ganz gut in den Kram passen.«
»Mir???« Dass ihm das Getöse was gab, war gut erkennbar, aber ich hatte mit den Dingern nichts am Hut, und das wusste er.
»Hirsche röhren, Löwen brüllen, Jungs lassen Motoren dröhnen«, meinte Tom. »Das ist Balz. Los, komm her.«
Zögernd ging ich einen Schritt auf ihn zu.
»Komm schon, vertrau mir. Ich hab das in den Genen.« Er öffnete seine Biker-Jacke, um den Nierengurt von den Hüften zu lösen. Wortlos zog er mich an der Taille zu sich und legte ihn mir um. Dann zeigte er auf einen zweiten Helm, der neben ihm auf der Gartenmauer lag. »Der ist für dich.«
Ich nahm ihn und drehte ihn unschlüssig in den Händen. Tom aber hatte seinen schon aufgesetzt, klappte das Visier herunter und forderte mich mit einer Kopfbewegung auf, hinter ihm Platz zu nehmen. Er drehte den Schlüssel und der Motor röhrte erneut auf. Ich seufzte, schulterte meinen Rucksack, stülpte mir den Helm über den Kopf und kletterte hinter Tom auf den komischen kleinen Sitz, der offenbar für mich gedacht war. Wenn’s das Liebesleben förderte – na gut.
Schwupps. Tom gab Gas. Ich kippte nach hinten und konnte mich gerade noch an seine Lederjacke krallen. Er merkte, dass ich das Gleichgewicht verloren hatte und bremste. Jetzt knallte ich mit meinem Helm an seinen.
»So geht das nicht. Festhalten!«, befahl Tom. Er packte meine Hände und verschränkte sie vor seinem Bauch.
Uff. Das war … ganz schön … nah. Aber ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken und rumzuzicken. Der Motor heulte auf, wir schossen nach vorn und sausten die Straße entlang, auf der wir sonst mit den Rädern gemächlich vor uns hin zockelten. Vorn an der Ecke legte Tom sich so in die Kurve, dass ich die kleinen Steinchen im Asphalt von Nahem betrachten konnte. Ich wollte sie aber gar nicht sehen, also schloss ich die Augen. So war es besser, aber nicht viel. Als wir ein paar Minuten später den Schulhof erreichten, stieg ich mit wackeligen Knien ab und dachte: Nie wieder!
Was danach kam, war allerdings ganz großes Kino! Ich nahm den Helm ab, blickte mich um und stellte fest, dass alle, wirklich alle auf dem Pausenhof zu uns herübersahen, vom Fünftklässler bis zu den Abiturienten. Jakob auch. Der war wie erstarrt. Wow!
»Was ist mit meiner Frisur?«, zischte ich Tom zu, der selbst gerade den Helm abgenommen hatte. Seine Haare standen in alle Richtungen ab, er sah aus wie ein Vogel in der Mauser.
»Hä?«, fragte er.
»Meine Haare. Der Helm. Wie sehe ich aus?«
Tom grinste, legte seinen Helm auf den Motorradsitz, stellte sich vor mich hin und strich mir die Haare hinters Ohr. »So ist es ganz okay.« Er fuhr sich mit der Rechten selbst durch seine Strubbelhaare.
»Danke fürs Mitnehmen«, sagte ich.
Tom stand immer noch so nah vor mir, dass ich nicht wusste, wohin mit meinem Blick. Er roch nach Rasierwasser und Zahncreme mit Pfefferminz. Irgendwie wollte ich weg von ihm. Tief durchatmen. Zur Ruhe kommen. Aber Tom war noch nicht fertig mit seiner Balz. Er griff nach meinen Händen und legte sie sich auf die schwarze Lederjackenbrust. Ääääh! Voll kitschig. Ich wollte meine Hände zurückziehen, aber seine lagen darüber und hielten meine fest.
»Kein Problem«, sagte er mit tiefer Filmstarstimme. »Wenn du
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