Wen küss ich und wenn ja, wie viele? - Lilias Tagebuch
könnte was bewirken, zumindest bei Lilia. Die ist geradezu erstarrt, als sie uns sah.
Aber da ist noch was, das ich dir erzählen wollte: Komme gerade vom Polizeirevier. Hatte einen kleinen Zusammenstoß mit Jakob, es ging um – ach, lies es doch selbst. Ich häng dir einfach das Polizeiprotokoll an.
Übrigens: Nein. Ich will nicht darüber reden.
Und – ja, es ist komisch.
Tom
Polizeirevier Innenstadt, Mitte
Zum Sachverhalt:
Über Notruf informierte Frau Martina Waller-Wiesenschnitt, 32, wohnhaft Sperlingweg 47, am Montag, 30. Mai, um 17.56 Uhr die Polizei.
Am Einsatzort gab sie den Beamten gegenüber Folgendes an:
Die Anruferin besucht jeden Montag um 18.00 Uhr zusammen mit neun weiteren Schwangeren einen Geburtsvorbereitungskurs im Gymnastiksaal der Turnhalle. Zu diesem Zeitpunkt findet in der gesamten Halle keine weitere Veranstaltung statt. Die Frauen und ihre Hebamme sind also stets allein im Gebäude.
Am betreffenden Tag hatte sich Frau Waller-Wiesenschnitt verspätet und war daher allein im Umkleideraum. Als sie durch den Gang zum Gymnastiksaal ging, begegnete ihr dort ein nackter Mann. Sie rief um Hilfe und alarmierte damit die anderen Frauen der Gruppe.
Der Mann flüchtete in einen fensterlosen Umkleideraum und verriegelte die Tür. Die Hebamme rief telefonisch die Polizei.
Beim Eintreffen der Beamten zeigte sich folgende Situation:
Bei den aufgeregten und ängstlichen Frauen hatten sich mittlerweile mehrere durch Handy alarmierte Ehemänner eingefunden, die den Täter laut zum Verlassen der Umkleide aufforderten. Dieser hatte sich in der Umkleide eingeschlossen und verweigerte den Zutritt.
Die Beamten veranlassten die Schwangeren und ihre Männer, sich in die Damenumkleide zurückzuziehen, um sich zu beruhigen. Anschließend forderten sie den Exhibitionisten auf, die Tür zu öffnen.
Der Täter gehorchte ohne Gegenwehr. Da in der Umkleidekabine keine Kleidung vorhanden war, organisierten die Beamten dem Nackten Kleidungsstücke aus dem Fundsachenvorrat der Halle und nahmen ihn mit aufs Revier.
Dort gab er Folgendes zu Protokoll:
Sein Name sei Jakob Bentheim, wohnhaft Waldstraße 18, er sei 17 Jahre alt und besuche die zehnte Klasse des Schillergymnasiums. Von 16.00 bis 17.30 Uhr habe er mit einem Klassenkameraden in der Turnhalle Badminton gespielt. Dabei sei es zu einem Streit zwischen ihm und dem Anderen gekommen, es sei um ein Mädchen gegangen. Die beiden Rivalen hätten beschlossen, die Auseinandersetzung mit einem Badminton-Match zu beenden. Der Sieger sollte das Mädchen am Abend besuchen dürfen.
Seinen Angaben zufolge gewann Jakob Bentheim das Match. Anschließend brachte er dem Rivalen gegenüber seine Freude und seinen Triumph zum Ausdruck. Dabei äußerte er eigenen Angaben zufolge auch Spott und Häme.
Anschließend sei er aus der Umkleide in den benachbarten Duschraum gegangen. Nach Beendigung des Duschvorgangs sei er zurückgekehrt und habe die Umkleide leer vorgefunden. Seine Tasche, seine Kleidung, selbst sein Handtuch seien nicht mehr auffindbar gewesen.
Herr Bentheim gab zu Protokoll, er habe einige Minuten lang in der Umkleide ausgeharrt, in der Hoffnung, dass es sich um einen Streich handelte, doch weder sein Klassenkamerad noch sonst jemand sei gekommen, um ihm seine Kleidung zurückzubringen.
Er habe dann gewartet, bis die Frauenstimmen auf dem Gang verstummt seien, um sich aus der Fundsachenkiste im Treppenbereich passende Kleidungsstücke herauszusuchen. Dabei sei er von Frau Waller-Wiesenschnitt überrascht worden, die ihn fälschlicherweise für einen Exhibitionisten gehalten habe. Die aufgeregte Frau habe so laut geschrien, dass er das Missverständnis nicht aufklären konnte und sich zum Rückzug entschlossen habe.
Er gab an, bei dem Rivalen habe es sich um den ebenfalls 17-jährigen Tom Barker, wohnhaft Uhlandstraße 29, gehandelt.
Um die Angelegenheit rasch zu klären, nahmen die Beamten telefonisch Kontakt zu dem Zeugen Barker auf und bestellten ihn ins Präsidium. Dort bestätigte er nach kurzem Zögern die Angaben von Jakob Bentheim.
Die Beamten stellten daraufhin das Verfahren gegen Jakob Bentheim wegen Belästigung durch exhibitionistische Handlungen ein. Da dieser seinerseits auf eine Anzeige gegen Tom Barker wegen Diebstahls verzichtete, wurden die Ermittlungen geschlossen. Die Beamten sahen von einer Weiterverfolgung wegen groben Unfugs ab, da beide Beteiligten Reue zeigten.
Gezeichnet: Polizeibeamter M. Born
Dienstag, 31. Mai
Der Mensch
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