Wen küss ich und wenn ja, wie viele? - Lilias Tagebuch
Geschlechter notwendig sind, um Nachkommen großzuziehen. Ameisen, um genau zu sein. Im Mittelteil wollte ich typisch weibliche und typisch männliche Rollen infrage stellen. Mein Paradebeispiel waren hier die Seepferdchen, bei denen die Männchen ihre Jungen in einer Bauchtasche austragen und sie nach der Geburt großziehen. Dann wollte ich den Knaller bringen: Bei einigen Säugetieren können sogar die Männchen den Jungen Milch geben – Meerschweinchenjungs können das, Stiere und in manchen Fällen sogar menschliche Männer. Ich wollte also ein geistiges Feuerwerk vor dieser Klasse entzünden und dann, wenn sie an meinen Lippen hingen, wollte ich knallharte wissenschaftliche Facts bringen. Aber bevor es dazu kam, blickte ich auf.
Und ich sah Tom.
Er hing nicht an meinen Lippen. Er hing an Vickys. Wirklich. Im wahrsten Sinne des Wortes! Tom küsste Vicky mitten im Bio-Unterricht, gerade als ich mein bahnbrechendes Referat über die Frage hielt, wozu man eigentlich Männer braucht.
Ich kapierte erst gar nicht, was ich da sah, aber als der Groschen fiel, da reagierte mein Gehirn mit einem kompletten Softwareabsturz. Erst mal war der Ton weg, ich hörte plötzlich nichts mehr. Und dann hatte ich nur noch ein Standbild vor Augen: diesen Kuss.
Ich glaube, ich habe eine Weile gar nichts mehr gesagt.
Dann schnappte ich nach Luft und plötzlich funktionierten Ton und Bild wieder. Nur mein Steuerungszentrum im Gehirn, das hakte immer noch. Ich merkte es, als ich weitersprechen wollte.
Plötzlich konnte ich nicht mehr Breitfuß-Beutelmaus sagen. Echt! Es ging nicht! Breitmaus-Beutelfuß. Breitbeutel-Fußmaus. Mausbreit-Fußbeutel. Es war wie verhext, ich kam aus der Nummer nicht mehr raus. Freitbuß-Meutelfaus. Und danach ging dann natürlich gar nichts mehr. Ich stolperte über jedes Wort mit mehr als drei Buchstaben. Ich konnte nicht mal mehr »Parthenogenese« ohne Versprecher herausbringen und statt »einzelliger Organismus« sagte ich – oh, ne, das schreibe ich nicht auf, das ist zu peinlich.
Ich mach es jetzt kurz, denn ich ertrage den Gedanken an diese Niederlage nur schwer: Ich stammelte mich irgendwie durch, wartete gar nicht auf die Note und sauste beim Klingeln aus dem Klassenzimmer, bevor die anderen auch nur die Hintern von den Stühlen heben konnten. Im Foyer war noch niemand und so hatte ich ein paar wertvolle Sekunden für einen infernalischen Wutausbruch. Wäre das Foyer unserer Schule kameraüberwacht, hätte ich damit bestimmt einen Amokalarm ausgelöst. Ich trat gegen eine Säule, raufte mir die Haare und sagte Wörter, die man nicht sagen sollte.
»Tut mir wirklich leid«, sagte eine Stimme hinter mir. Ich fletschte ein letztes Mal die Zähne, zog mit großer Anstrengung mein Gesicht glatt und drehte mich um.
Jakob!
»Ich hätte nicht gedacht, dass meine Kusshand dich so aus dem Konzept bringen würde.« Er schlang beide Arme um mich, zog meinen Kopf an seine Schulter und vergrub sein Gesicht in meinen Haaren. Gut! So konnte er meine Verwirrung nicht sehen. Kusshand? Er hatte mir eine Kusshand zugeworfen?
»Du bist vielleicht süß, lila Lilia«, sagte Jakob in mein Ohr und lachte leise. »So leicht kann man dich aus dem Konzept bringen. Aber jetzt komm mal wieder runter. Die paar Versprecher waren gar nicht schlimm. Und dein Referat war sehr lehrreich.«
»Echt?«, seufzte ich erleichtert und sah zu ihm auf. Er nahm mein Gesicht in beide Hände und küsste mich ganz zart auf die Lippen. Ein paar Mädels aus der Parallelklasse gingen an uns vorbei, stießen sich gegenseitig an und starrten zu uns rüber.
»Wirklich!« Jakob lächelte. Er roch gut, nach Pfefferminz und frischer Wäsche. Haben Wissenschaftler eigentlich schon mal untersucht, ob dieser Geruch bei Menschen nicht auch Frühlingsgefühle hervorrufen kann? Bei mir zumindest tut er das.
In diesem Moment gingen Vicky und Tom an uns vorbei. Hand in Hand. Ich sah nicht hin. Ich küsste Jakob, bis ihm die Luft wegblieb.
Wer bitteschön ist denn Tom? Ein alter Freund, mehr nicht. Schön, dass er jetzt auch jemanden gefunden hat. Über Geschmack kann man sich ja bekanntlich streiten, aber das muss er selbst wissen. Blöd finde ich es, dass er mir nichts davon gesagt hat. Ja, ja, ja, ich weiß. Dana hat mich längst darauf aufmerksam gemacht, dass ich keinen Deut besser bin als er. Bäh, bäh, bäh. Trotzdem doof.
Aber ich lasse mich davon jetzt nicht runterziehen. Heute Abend kommt nämlich Jakob. Zu mir. Nach dem Training, um
Weitere Kostenlose Bücher