Wen liebst du, wenn ich tot bin?
dass du mir ins Gesicht lügen könntest. Das ist noch gar nicht lange her.«
Vor dem Fenster rauschten die Pappeln im Wind und mir fiel auf, dass die zitternden Blätter ganz unterschiedliche kleine Tänze aufführten. Man musste nur hinschauen. Sie bewegten sich pausenlos, tanzten über den Ästen, immerzu und für niemanden.
Einunddreißig
A n der Decke meines Schlafzimmers klebte ein staubiges Spinnennetz. War es nicht seltsam, dass man immer weiterweinen wollte, selbst wenn man gar keine Tränen mehr übrig hatte? Trick war weg. Dad hatte recht. Sam könnte sterben. In meinen Adern brannte es und meine Fingerkuppen pochten schmerzhaft. Fiasco rekelte sich neben mir und wollte mein Gesicht lecken.
Dad war unter der Dusche, ich hörte das Rauschen des Wassers aus dem Bad. Sonnenlicht drang durch die Vorhänge, und ich sah zu, wie der Schatten des Rosenstrauchs über die Wand tanzte.
Ich war in eine Art Trance gefallen, daher dauerte es ein wenig, bis ich merkte, dass der Schatten auf dem Vorhang größer geworden war und etwas an der Fensterscheibe kratzte.
Fiasco sprang vom Bett und lief ans Fenster. Ihr Bellen klang zu hoch. Ich zog die Vorhänge zurück.
Mein Herz rutschte nach unten oder hüpfte nach oben, ich wusste es selbst nicht so genau. Mir war schwindelig.
Hinter dem Rosenstrauch stand Trick.
Dad würde mich umbringen. Er würde ihn umbringen. Ich konnte nicht mit ihm sprechen. Aber er hatte gewartet. Er war nicht abgehauen.
Er trug noch dieselben Sachen wie letzte Nacht, sein Gesicht war aufgeschürft und auf einer Seite angeschwollen, seine Unterlippe war geplatzt. Vor Wochen hatte er vorausgesagt, dass er sich wieder eine gebrochene Nase einhandeln würde – er hatte recht behalten. An seiner Nasenwurzel, gleich unter den schwarzen Augen, war eine tiefe Delle. Sie sah aus wie eine Pfeilspitze aus Feuerstein.
Ich öffnete das Fenster.
Trick presste die Lippen aufeinander. Unter den Sommersprossen auf seiner Nase färbte sich die Haut lila. Sein sonnengebräuntes Gesicht war blass, aber er wirkte ruhig.
Er streckte die Hand nach mir aus, aber ich rührte mich nicht.
»Mein Dad ist unter der Dusche«, flüsterte ich. Ich hörte das Wasser rauschen, aber es konnte jede Minute aufhören.
Trick nickte.
»Ich habe es nicht fertiggebracht, mit ihnen wegzugehen«, flüsterte er. »Sie sind alle fort, aber ich musste dich wiedersehen – wie du mich angeschaut hast, als du mit deinem Vater kamst und ich … kannst du nicht rauskommen, Iris? Bitte?«
Ich war nur einen Meter von ihm entfernt. Nur mein Schreibtisch, das Fenster und die Hauswand trennten uns. Er streckte mir die Hände entgegen, aber ich konnte sie nicht einmal ansehen. Mein Gesicht war wie versteinert. Es wusste nicht mehr, wie man sich bewegt. Er schob die Hände in seine Hosentaschen. Dann zog er sie wieder heraus. Mit einem Arm stützte er sich an der Hauswand ab.
»Wie geht es ihm?«, fragte er. Das letzte Wort verschluckte er fast.
Ich starrte auf das Fensterbrett. Da waren Pfotenabdrücke und Staubflusen und Kletten – die Katzen benutzten mein Fenster als Ein- und Ausgang. Ich kratzte den Dreck zu einem Häufchen zusammen.
»Nicht gut.« Meine Stimme klang mechanisch und tonlos und wieder hörte ich mich wie aus einem fernen Radio sprechen. Die Worte kamen nur mühsam heraus. Meine Kehle brannte. »Die Ärzte gehen davon aus, dass er Hirnverletzungen hat. Aber sie wissen es nicht genau, solange er noch nicht aufgewacht ist. Sie haben ihn ins Koma versetzt, weil sein Gehirn angeschwollen ist. Er musste notoperiert werden.«
Es war ein seltsames Gefühl, diese Worte zu sagen. Und nach Tricks Gesichtsausdruck zu urteilen, hörten sie sich auch seltsam an.
»Ich dachte, er ist tot«, sagte er.
Er tauchte die Fingerspitzen in die Schmutzschicht auf dem Fensterbrett und ließ etwas davon auf den Boden rieseln.
»Ich bin so erleichtert«, sagte er. Aber es klang nicht danach.
»Komm zu mir raus«, sagte er. Es war eine Bitte, aufrichtig und schlicht, aber ich konnte mich nicht bewegen. Er strich sich die Haare aus den Augen und holte tief Luft. Er starrte mich immerzu an. Sein Gesicht war so blass.
»Meine Ma ist in Panik geraten, als ich ihr erzählt habe, was passiert ist. Sie hat sofort unsere Sachen gepackt. Ich hab die ganze Zeit versucht, sie davon abzuhalten. Ich wollte, dass sie sich hinsetzt und mir zuhört – aber es nützte alles nichts. Andauernd sagte sie, wir müssten sofort von hier weg und sie hätte
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