Wen liebst du, wenn ich tot bin?
Gehirnerschütterung wohl schlimmer sei als gedacht und dass ich mich an gar nichts mehr erinnern könnte. Ich sah Skepsis in ihren Augen aufflackern, aber sie sagte nur, dass würde schon wieder werden, er solle die Symptome im Auge behalten und einen Arzt aufsuchen, falls sie sich verschlimmerten. Sie sagte, das Beste, was ich jetzt machen könnte, wäre, nach Hause zu gehen und mich auszuruhen.
»Wir warten lieber hier«, sagte Dad, woraufhin die Ärztin uns erklärte, dass wir auch in den Warteraum für Familienangehörige gehen könnten. Dad erwiderte, es sei schon in Ordnung so. Sie blickte mich fragend an, aber ich stimmte Dad zu.
»Gemütlich haben wir es jetzt nirgends«, sagte ich.
Ehe sie ging, bat sie Dad, mich nicht zu bedrängen. »Solche Dinge können für einen jungen Zeugen sehr traumatisch sein.«
Ich wäre ihr am liebsten um den Hals gefallen, bis ich begriff, was sie gesagt hatte.
Ich war jetzt eine Zeugin.
Siebenundzwanzig
I n der Nacht durften wir für ein paar Minuten zu Sam. Ein Schlauch ragte aus seinen Kopfbandagen. Er diente dazu, den Druck in seinem Gehirn zu regulieren, sagten die Ärzte. Bei seinem Anblick fröstelte ich. Sams Haut war noch immer aschfahl, aus seinen Nasenlöchern kamen weitere Schläuche, auf seiner Brust klebten verkabelte Elektroden und in seinen Armen steckten mehrere Infusionsnadeln.
Im Zimmer war es eisig – die Ärzte wollten Sams Körpertemperatur absenken, vielleicht würde die Schwellung in seinem Schädel dann schneller zurückgehen. Sie hatten ihn an ein Beatmungsgerät angeschlossen. Das rhythmische Saugen und Pfeifen ließ mich an meine eigene Lunge denken.
Dad nahm Sams Hand und sagte ihm, dass er stolz auf ihn war, dass er ihn liebte und dass ihm alles schrecklich leidtäte. »Wenn du wieder aufwachst, bringe ich das wieder in Ordnung«, sagte er kaum hörbar und war ein wenig verlegen dabei.
Ich stand am Fuß des Betts. In meinem Kopf kreiste nur ein einziger Gedanke: Du bist mein Bruder, du bist mein Bruder, du bist mein Bruder.
Achtundzwanzig
A ls ich die Augen aufschlug, lag ich zusammengrollt auf zwei Sitzen. Den Kopf hatte ich in dem Pullover vergraben, mit dem Dad Sam zugedeckt hatte. Ein metallischer Geruch stieg mir in die Nase, und als ich den Pulli hochhob, sah ich Blut. Mir war übel.
»Wie spät ist es?«, fragte ich. Von Dad kam keine Antwort. Er starrte aus dem Fenster. Wir waren ziemlich weit oben, im fünften Stock, vor dem Fenster sah ich weite Felder und einen weißen Wasserturm.
»Du würdest nichts verheimlichen, oder? Du würdest einfach die Wahrheit sagen, nicht wahr?«
Seine Augen musterten mich prüfend und ich nickte. Meine Kehle war wie zugeschnürt und ich fragte mich, ob ich jemals wieder mit ihm sprechen könnte.
»All die Dinge, die ich ihm an den Kopf geworfen habe, Iris. Warum habe ich solche Sachen zu ihm gesagt?«
Er blickte mich verstört an.
Die ersten Sonnenstrahlen tasteten sich durch die Jalousien vor den Fenstern. Dad zog an der Schnur, aber nichts rührte sich. Er ließ die Schnur los und sie pendelte ein paar Sekunden lang vor der Wand.
»So viel Blut«, stöhnte er.
Ich hatte das Gefühl, in einem blutroten Meer zu ertrinken.
Neunundzwanzig
U m acht Uhr kam Dr. Kang. Sie trug eine saubere Bluse, aber das gleiche süßliche Parfüm. Als Erstes erkundigte sie sich, wie es meinem Kopf ging. Dann fing sie an zu reden, hastig und schnell wie immer.
»Wir werden nun einen ersten Versuch starten, Ihren Sohn aus dem Koma zu holen. Wir wollen das Lorazepam absetzen, um zu sehen, ob die Krampfanfälle inzwischen nachgelassen haben. Wenn wir das Lorazepam erfolgreich absetzen können, hilft uns das schon weiter. Erst dann können wir feststellen, wie sein Gehirn ohne die Medikamente arbeitet – und in welchem Umfang.«
Fragen über Fragen brannten uns auf den Lippen, aber sie hatte keine Antworten.
»Es klingt ziemlich banal, aber ich fürchte, das ist der Stand der Dinge. Zum jetzigen Zeitpunkt können wir nur abwarten. Der Schaden an seinem Gehirn lässt sich erst beurteilen, wenn er aus dem Koma aufgewacht ist. Bis dahin werden wir alles tun, damit es ihm so gut wie möglich geht.«
Ich hatte die Broschüren gelesen, die sie uns dagelassen hatten. Gehirnverletzungen konnten zu Lähmungen, Gedächtnisverlust, Blindheit, Taubheit und Persönlichkeitsveränderungen führen. Dad sagte, ihm wäre alles egal, solange Sam nur wieder aufwachte.
Aber was, wenn er dann sabberte, vor sich hin lallte
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