Wen liebst du, wenn ich tot bin?
immer gewusst, dass es irgendwann so kommen würde und ich könnte auch unterwegs noch ins Krankenhaus. Sie hörte einfach nicht auf. Sie ist total ausgerastet.«
Er wollte an seiner Lippe zupfen, ließ es dann aber lieber.
»Als mein Vater aus der Kneipe zurückkam, weckte sie die Kleinen auf. Er ist erst so spät zurückgekommen. Dann brüllten sie sich an. Ich hielt es nicht mehr aus, ich musste raus. Ich sagte, ich würde die Sachen vor dem Wagen einsammeln. Von draußen konnte ich meinen Dad fluchen hören, was für ein unglaublicher Idiot ich doch sei und dass er nicht schuld war, weil er mich schließlich oft genug gewarnt hatte, und ich stand einfach draußen und rührte mich nicht.
Ich konnte mich doch nicht einfach aus dem Staub machen … ich durfte es nicht zulassen, dass du glaubst … es ist ja sowieso schon alles schlimm genug … da durfte ich nicht auch noch … ich sprang also über den Wassergraben, ganz ohne Trittsteine, und rannte einfach drauflos. Ich landete in unserem Versteck im Maisfeld. Sogar da draußen konnte ich sie noch hören, Iris. Sie schrien sich die Seele aus dem Leib. Mein Vater drohte, was alles passieren würde, wenn ich nicht sofort wieder zurückkäme, meine Mutter rief, dass sie ohne mich nirgendwohin gehen würde, und Onkel Johnny versuchte die beiden zu beruhigen. Mum weigerte sich, mit den anderen zu fahren, und die Mädchen heulten ununterbrochen, sie verstanden nicht, was los war. Ich kletterte auf die Eiche und setzte mich auf einen Ast. Von dort oben hörte ich ihnen zu, bis er sich irgendwann durchgesetzt hatte und sie klein beigab wie immer.
Irgendwie hatte ich nicht geglaubt, dass sie tatsächlich fahren würden. Keine Ahnung, was ich dachte. Aber sie sind in das Auto gestiegen und weg waren sie. Ich war einfach nur erleichtert. Ich rechnete jeden Augenblick damit, dass dein Dad wieder zurückkommen würde. Ich wollte nicht noch mehr …«
»Meine Ma hat mir eine Adresse hinterlassen«, fuhr er fort. Ich stellte mir vor, wie sie mit den Fingern durch das rote Haar fuhr, halb verrückt vor Sorge. »Irgendwelche Cousins in Nottingham.«
»Du kannst sie haben«, sagte er bedeutungsvoll. »Falls … Damit du mich auf dem Laufenden halten kannst. Wie es weitergeht.«
Er hielt mir den Zettel hin. Seine Finger zitterten, und mir wurde klar, dass er alles andere als ruhig war.
»Hätte nicht gedacht, dass du meinen Anblick überhaupt noch ertragen kannst, wenn ich ehrlich bin«, sagte er, und beinahe hätte er wieder an der geschwollenen Oberlippe gezupft.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Mein Kopf war leer wie ein Luftballon.
»Ich wusste nicht, was los war, Iris. Es ging so schnell, plötzlich stürzten sich alle auf mich. Mir war nicht klar, dass es dein Bruder war. Das schwöre ich. Ich wollte nur, dass sie mich in Ruhe lassen. Ich habe jeden Augenblick damit gerechnet, dass sie mir das Messer zwischen die Rippen jagen. Es war ja nicht das erste Mal, dass … ich habe dir nichts davon gesagt, weil ich nicht wollte, dass du denkst, ich … sie hatten es schon seit Wochen auf mich abgesehen. Immer wenn sie mich provozieren wollten – im Dorf, auf der Straße –, habe ich es einfach über mich ergehen lassen, weil …«
Er sah mich an und überlegte. Mit ernstem Gesicht schob er seine Weste hoch. Sein Bauch war übersät von Schürfungen und Schnittwunden. Vor meinem Auge sah ich, wie Punky und Dean ihn an den Armen festhielten, während die Stollen von Sams Fußballschuhen im Mondlicht blitzten.
»Ich wollte mich verteidigen, Iris. Ich habe nichts von alldem gewollt. Das weißt du doch. Ich wollte meinen Vater holen, das ist alles. Ich hab’s dir doch gesagt – ich kann nichts dagegen tun, es holt mich immer wieder ein. Du warst doch dabei, du hast es doch gesehen. Oder?«
Ich betrachtete die blonden Spitzen seiner langen Wimpern, seine sommersprossige Nase, die jetzt krumm war. Er wünschte sich so, dass ich sagte, dass es so gewesen war, dass er recht hatte – aber ich konnte nicht.
»Du hast meinem Bruder einen Ziegelstein auf den Kopf geschlagen.«
Trick senkte den Kopf. Er legte einen Arm über seinen Bauch, als wollte er sich damit zusammenhalten. Dann nickte er, ganz langsam.
»Es tut mir leid«, sagte er, und seine Stimme klang jetzt anders, matt.
Wir schwiegen unendlich lange. Ich betrachtete seine Pupille, die an einer Stelle mit der grauen Iris verschmolz. Ich brachte kein Wort heraus. In der Pappel gurrte eine Taube, ganz nah, und
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