Wen liebst du wirklich?
erinnern, die er in jenen Tagen in diesem Haus erduldet hatte. Plötzlich sprang er vor und riss die Tür zu dem Wandschrank auf. Sein Gesicht war kreidebleich, und auf der Stirn standen ihm feine Schweißperlen.
"O Cassian!" flüsterte Laura mitfühlend.
Er sprach kein Wort, sondern starrte eine scheinbare Ewigkeit in die undurchdringliche Dunkelheit des begehbaren Schrankes, und Laura erinnerte sich lebhaft, wie sie jedes Mal voller Schrecken zugesehen hatte, wenn er trotzig und mit hocherhobenem Kopf dort hineingegangen war, als würde ihn das Paradies erwarten. Dabei musste es für den freiheitsliebenden Cassian die schlimmste Folter gewesen sein.
Laura konnte die Stille nicht mehr ertragen. "Cassian …"
"Schließ mich ein."
Sie zuckte erschrocken zusammen. "Wie bitte?"
"Mach es." Er betrat den Schrank, drehte sich um und sah sie herausfordernd an.
"Nein!" wehrte sie entsetzt ab.
"Tu es!" befahl er.
Wie hypnotisiert gehorchte sie. Dann wartete sie fröstelnd und mit pochendem Herzen und blickte besorgt und flehentlich auf die massive Eichentür.
Minuten vergingen, dann hörte sie ein leises Klopfen. Erleichtert stürzte sie vor und riss die Tür wieder auf. Cassian kam heraus. Er atmete schwer, aber seine Augen leuchteten triumphierend. Mit einem Aufschrei drückte Laura ihn an sich und wich dann befangen zurück.
"Du bist ja eiskalt!" sagte er und rieb ihr die Arme.
"Ist … schon gut", wehrte sie heiser ab. "Und wie geht es dir?"
"Bestens."
Die Wärme seiner Hände übertrug sich auf ihren Körper. Laura zupfte nervös Spinnweben von seinem T-Shirt. "Ich … habe mir Sorgen um dich gemacht."
"Es war okay. Ich werde auch von innen ein Schloss anbringen, so dass niemand mehr eingesperrt werden kann. Das ist jetzt alles Vergangenheit."
"Es war richtig schlimm für dich, als Kind dort eingesperrt zu werden, nicht wahr?"
"Es war eine Lektion."
Laura blickte erstaunt zu Cassian auf. "Eine Lektion worin?"
"In Loslösung … des Geistes von der Materie."
"Aber … du musst dich doch jedes Mal schrecklich davor gefürchtet haben, wieder dort eingesperrt zu werden."
"Manchmal muss man sich seinen Ängsten stellen, Laura", sagte er heiser, "um stärker zu werden."
Sie schüttelte den Kopf. "Du musst doch überall in diesem Haus Dinge sehen, die du lieber vergessen möchtest."
"Wenn du hier leben kannst, dann kann ich es auch", entgegnete er sanft.
"Ich bin anders."
"Das kannst du laut sagen", meinte er trocken.
Laura errötete. Insgeheim wünschte sie sich, Cassian und sie wären nicht Lichtjahre voneinander entfernt. Aber die Wahrheit ließ sich nicht leugnen. "Wir sind völlig gegensätzlich. Du und deine Mutter, ihr kamt mir vor wie … wilde Vögel. Ihr beide habt euch nur nach Freiheit gesehnt, wohingegen ich immer fügsam war und …"
"Vertue dich nicht, Laura. Wir alle sind leidenschaftlich, wenn es um etwas geht, was wir lieben." Er sah sie so eindringlich an, dass ihr der Atem stockte. "Sogar du … wenn es zum Beispiel um deinen Sohn geht."
"Wirklich?" fragte sie erstaunt.
"Ja, sehr sogar. Deine Liebe zu Adam ist stärker als alles andere." Er lächelte entwaffnend. "Was mich betrifft, ich weiß eigentlich gar nicht genau, warum ich hier bin, außer dass ich eine unwiderstehliche Sehnsucht gespürt habe, als Tony das Haus erwähnte. Und als ich die Sonne über dem Moor sah und Thrushton Hall eingebettet in den grünen Hügeln, da schlug mein Herz vor Freude schneller. Ich muss hier bleiben und werde Frieden mit meiner Vergangenheit schließen. Das da ist nur ein Wandschrank, der keinerlei Schrecken mehr für mich birgt. Ich muss hier leben, damit dieses Haus in meiner Erinnerung wieder ganz gewöhnlich wird. Ich glaube, das ist ein unerlässlicher Teil meiner Weiterentwicklung."
Laura begriff, was er meinte, wusste aber gleichzeitig, dass sie nie ganz verstehen würde, was Cassian antrieb. Das war es, was ihn für sie so faszinierend und begehrenswert machte.
Vergangenheit und Gegenwart prallten aufeinander. Die Anspannung machte sich Luft, und Laura konnte die Tränen nicht zurückhalten, obwohl sie nicht wirklich wusste, warum sie weinte. Sie wollte sich abwenden, damit Cassian es nicht bemerkte. Zu spät. Sanft legte er ihr beide Hände auf die Schultern und drehte sie zu sich herum. Im nächsten Moment schmiegte sie sich in seine Arme und barg das Gesicht an seiner Schulter.
"Verzeih", sagte sie schluchzend. "Ich sollte wirklich nicht …"
Er umfasste ihr Kinn und sah sie
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