Wen liebst du wirklich?
wenigstens war er so rücksichtsvoll gewesen, Adam nicht bis an die Grenzen seiner Leistungskraft zu treiben.
"Das ist ja ganz etwas Neues, Adam", bemerkte sie nun. "Du frühstückst doch sonst nicht so viel." Eine Scheibe trockenen Toast und ein Glas Orangensaft war alles, wozu sie ihn normalerweise überreden konnte.
Zu ihrer Verärgerung antwortete ihr Sohn ihr nicht einmal, sondern blickte nun etwas ratlos auf ein rohes Ei, das Cassian ihm in der Schale in die Hand gedrückt hatte.
"Ich mache es dir vor, dann machst du das nächste", wies Cassian ihn ruhig an. "Pass auf. Ein leichter Schlag mit dem Messer, dann brichst du es mit den Fingern vorsichtig auf … in diese Tasse, und dann lässt du es in die Pochierpfanne gleiten."
Zum ersten Mal in ihrem Leben spielte Laura im Leben ihres Sohnes die zweite Geige, und es fiel ihr nicht leicht. Doch zu ihrem Erstaunen gelang ihrem Sohn die komplizierte Prozedur mit dem Ei auf Anhieb, und er strahlte übers ganze Gesicht.
Cassian klopfte ihm anerkennend auf den Rücken. "Ei…nzigartig!"
Laura sah ihren lachenden Sohn an, als hätte er sie verraten. "Dann bist du also neuerdings ein Fan von großem Frühstück", meinte sie locker, bemüht, sich ihre Eifersucht nicht anmerken zu lassen.
"Ich bin ja bis heute auch nicht vor dem Frühstück gejoggt." Adam strich sich eine blonde Locke aus dem Gesicht und schlug gekonnt ein weiteres Ei auf. "He! Was sagt ihr dazu?" rief er stolz, als hätte er ein Tor für Manchester United geschossen.
"Toll", räumte Laura ein. Das war nicht ihr Sohn! Argwöhnisch sah sie zu, wie Cassian Adam einen Arm um die Schultern legte.
"Es ist noch genug für dich da, Laura", sagte Cassian unvermittelt. "Ich habe reichlich eingekauft."
Der Stolz gebot ihr, bei Toast und Marmelade zu bleiben, aber der Duft von gebratenem Speck ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen. "Danke", antwortete sie steif und entschied sich für einen Kompromiss. "Ich mache mir gleich selber etwas." Sie stand auf, um den Orangensaft herauszuholen. Der Anblick des voll gestopften Kühlschranks verschlug ihr fast die Sprache. "Sind das alles deine Vorräte?" fragte sie fassungslos.
"Auch deine. Ich habe auf dem Weg hierher nur ein paar Dinge mitgenommen."
"Ein paar Dinge? Steaks, eine Lammschulter, Schokoladeneclairs … Wir können das unmöglich annehmen …"
"Ach Mum!" protestierte Adam. "Bitte! Es kann doch seine Miete sein dafür, dass er hier wohnt, oder nicht?"
Laura presste die Lippen fest zusammen. "Darauf antwortest besser du", wandte sie sich nun an den sichtlich belustigten Cassian.
"Das Essen ist für uns. Mein Beitrag zu unserem Wohlergehen", sagte er nur.
"Damit wir mit vollem Magen ins Ungewisse gehen?" fragte Laura spitz. Sie wollte ihn provozieren, Adam die Wahrheit zu sagen.
Doch er ging nicht darauf ein und entgegnete lächelnd: "Wenn Adam jetzt so viel trainieren will, braucht er viel zu essen."
"Ich finde es super, dass du hier bist, Cassian", erklärte Adam arglos. "Und ist das nicht eine tolle Musik, Mum? Das sind Andenflöten. Sie sollen den Schrei des Kondors nachahmen, der hoch über den Berggipfeln schwebt."
"Ach wirklich?" fragte sie spöttisch, hob aber den Kopf und lauschte. Es klang tatsächlich so, als würden die klaren Flötenklänge von den Bergen widerhallen. Sie begegnete Cassians Blick und fühlte sich dabei ertappt, seine Musik zu genießen.
"Ich habe mir türkischen Kaffee gemacht. Möchtest du einmal probieren?" fragte er freundlich.
Obwohl sie wusste, dass er letztlich nur darauf aus war, sie und Adam vor die Tür zu setzen, konnte sie sich dem Zauber seiner warmen, tiefen Stimme nicht entziehen. "Ja", erwiderte sie und sah zu, wie er aus einer exotischen Kanne mit silbernem Ausgießer etwas von dem süßen Gebräu in eine kleine Tasse schüttete.
Adam und Cassian luden sich die Teller voll und setzten sich an den Tisch. Laura nippte an ihrem Kaffee und kam sich unglücklich und ausgeschlossen vor. Die beiden plauderten angeregt miteinander, während sie schweigend dabeisaß. Es war erstaunlich. Adam hatte all seine Schüchternheit und Zurückhaltung abgelegt, lachte und scherzte mit Cassian und aß mit großem Appetit. In nur wenigen Stunden hatte sich ihr Sohn völlig gewandelt und sichtbar an Selbstbewusstsein gewonnen.
Ein schmerzlicher Stich durchzuckte Laura. Rasch stand sie auf, um sich ihr Frühstück zurechtzumachen. Sie war eine hoffnungslose Versagerin. Adam hatte einen Vater gebraucht … oder
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