Wen liebst du wirklich?
nicht vorzustellen, wie verletzt der Junge sein musste. Für ihn war buchstäblich eine ganze Welt zusammengebrochen. Das Bild, das er sich von seiner wunderschönen, liebevollen Mutter gemacht hatte, der Mann, den er für seinen Vater gehalten hatte …
Ein leises Schluchzen ließ Laura aufhorchen. Sie wurde blass. Es kam aus dem Wandschrank.
"Wo ist er?" fragte Cassian, der an der Tür stehen geblieben war.
Ihr entsetzter Blick war ihm Antwort genug. Ehe er jedoch etwas unternehmen konnte, hob Laura erneut eine Hand und hielt ihn zurück. Leise ging sie zur Tür des Wandschranks und legte die Hand darauf, als könnte sie so das Kind trösten, das sich in Cassians altes Gefängnis zurückgezogen hatte.
"Jai", begann sie sanft, "ich bin's, Laura." Vorsichtig öffnete sie den Riegel, aber die Tür blieb verschlossen. Offenbar hatte Jai sich von innen eingeschlossen mit dem Schlüssel, den Cassian so umsichtig in dem neuen Schloss hinterlassen hatte. Laura schloss mitleidig die Augen. "Weine nicht, mein Schatz", sagte sie liebevoll.
Jai brach in herzzerreißendes Schluchzen aus. Laura blickte sich besorgt um. Adam stand jetzt neben Cassian, hielt dessen Hand und blickte verstört in sein bleiches Gesicht. Auch sie konnte es nicht ertragen, den Mann, den sie liebte, so leiden zu sehen. Sie musste die Dinge wieder in Ordnung bringen. Entschlossen bedeutete sie Cassian und Adam, zu gehen und sie mit Jai allein zu lassen.
"Ich bin ganz allein hier", wandte sie sich dann an Jai, wobei sie sich nicht vorstellen mochte, wie er da zusammengekauert auf dem kalten Steinboden saß und sich die Augen ausweinte. "Komm, setz dich mit mir aufs Sofa, Jai, und lass dich in den Arm nehmen. Wenn du willst, können wir reden oder einfach nur dasitzen. Vertrau mir, ich weiß, wie du dich jetzt fühlst. Auch ich musste schreckliche Dinge über meine Mutter hören, die mir das Herz gebrochen haben. Komm her, Jai. Ich verstehe dich."
Das Schluchzen war weniger geworden. Er hatte ihr also zugehört. Mit angehaltenem Atem wartete Laura. Die Geräusche aus dem Schrank verrieten ihr, dass Jai sich aufrappelte. Leise wich sie einen Schritt zurück. Der Schlüssel drehte sich im Schloss, und die Tür öffnete sich einen Spaltbreit.
"Cassian ist nicht hier", sagte Laura. "Nur ich."
Jais verweintes Gesicht tauchte zögernd im Türspalt auf. Voller Mitleid breitete Laura einfach nur die Arme aus, und der Junge stürzte sich hinein.
"Schon gut", flüsterte sie und führte ihn zum Sofa. "Komm, ich halte dich ganz fest. Weine ruhig, wenn du musst. Ich bin wasserfest." Sie streichelte ihm das zerzauste Haar, drückte ihm dann und wann einen Kuss auf die Stirn und wartete geduldig, bis sein Schluchzen schließlich verebbte.
"Meine Mutter war eine gemeine Ziege!" jammerte Jai schließlich. "Sie … hat mich nicht gewollt …"
"Aber Cassian wollte dich", gab Laura sanft zu bedenken.
"Nein, ich bin ihm aufgehalst worden!" widersprach Jai.
"Du weißt genau, dass das nicht stimmt." Laura strich ihm liebevoll die wirren Haarsträhnen aus der Stirn. "Cassian liebt dich. Für ihn bist du wirklich sein Sohn, auch wenn es biologisch nicht stimmt. Kein Vater könnte stolzer auf seinen Sohn sein."
"Meine Mutter ist eine gemeine Schlampe, und wer mein Vater ist, weiß keiner!" Jai sah sie verzweifelt und trostsuchend an.
"Das ist sehr schlimm für dich", räumte Laura ein. "Ich habe mich einmal in genau der gleichen Lage geglaubt, deshalb verstehe ich gut, wie weh das tut. Ich hatte Glück und habe entdeckt, dass meine Mutter und mein Vater in Wirklichkeit sehr liebenswerte Menschen waren. Ich kann nicht so tun, als wäre deine Mutter eine Heilige gewesen. Aber wer kann schon sagen, was sie dazu getrieben hat, so zu handeln, wie sie es tat? Vielleicht hatte sie einfach nur Angst, weil sie ungeliebt schwanger geworden war. Verängstigte Menschen denken oft nur noch an sich. Das ist der Selbsterhaltungstrieb."
Laura drückte Jai fester an sich und wischte ihm die Tränen aus dem Gesicht. "Vielleicht wusste dein Vater ja gar nicht, dass deine Mutter schwanger war. Vielleicht bedauert deine Mutter längst, dass sie dich verlassen hat, und denkt oft an dich. All das ist möglich. Aber eines wissen wir genau …" Sie küsste ihn liebevoll auf die Wange. "Cassian liebt dich. Du bist das Wichtigste in seinem Leben. Nur wenige Menschen haben das Glück, so geliebt zu werden, Jai."
"Er hat mich belogen!" fuhr der Junge wütend auf.
"Ich weiß." Laura
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