Wende
striktes Verbot der Atomlehre durch. Dieses Verbot aber konnte nicht der Auslöser gewesen sein für ein weiteres Vorgehen gegen Galilei, insofern Il saggiatore acht Jahre zuvor zum Druck freigegeben worden war. Doch eine andere Schrift Galileis, der ebenfalls 1632 erschienene Dialogo sopra i due massimi sistemi (Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme), bot seinen Gegnern die Gelegenheit, auf die sie gewartet hatten: Prompt wurde Galilei beim Heiligen Offizium, der römischen Inquisition, denunziert.
Am 22. Juni 1633 verkündete das Inquisitionstribunal sein Urteil: »Wir sagen, urteilen und erklären, daß du dich, obengenannter Galileo, durch die im Prozeß hergeleiteten und von dir, wie oben angegeben, gestandenen Dinge diesem Hl. Offizium der Ketzerei dringend verdächtig gemacht hast.« Noch immer geschützt von mächtigen, einflussreichen Freunden, blieben Galilei Folter und Hinrichtung erspart, das Urteil lautete auf lebenslange Haft, und aus der Kerkerhaft wurde bald Hausarrest. Die Häresie bestand dem Urteil zufolge darin, »dass du die falsche und den Heiligen und göttlichen Schriften widersprechende Lehre für gültig gehalten und geglaubt hast, wonach die Sonne der Mittelpunkt der Welt sei und sich
nicht von Ost nach West bewege und die Erde sich bewege und nicht der Mittelpunkt der Welt sei«. 10
Doch 1982 hat der italienische Historiker Pietro Redondi in den Archiven des Heiligen Offizium ein Dokument entdeckt, das dieses Bild verändert. 11 Es handelt sich dabei um ein Memorandum, in dem die Häresien aufgelistet werden, die sich in Il saggiatore finden lassen. Insbesondere diskutiert der Inquisitor Implikationen des Atomismus, auf den sich Galilei berufe. Dieser sei unvereinbar mit dem zweiten Kanon der dreizehnten Session des Tridentinischen Konzils, der Session, in der es um das Dogma der Eucharistie ging. Denn wenn man die Theorien des Signore Galileo Galilei akzeptiere, dann
können die Akzidentien, die im Hlg. Sakrament von der Substanz getrennt sind, wohl schwerlich existieren. Denn dort kommen die Begriffe und Gegenstände des taktilen Empfindens, des Gesichtssinns, des Geschmacksinns usw. vor; nach jener Theorie wird man sagen, daß hier die kleinsten Teilchen, die unsere Sinne aktivieren, verbleiben, ... dann folgt daraus, daß im Sakrament substantielle Teile von Brot und Wein sind, und das ist ein Irrglaube. 12
Auch dreiunddreißig Jahre nach der Hinrichtung Giordano Brunos war der Atomismus noch immer eine Überzeugung, die die wachsamen Kräfte der Orthodoxie unbedingt unterdrücken wollten. Und wo sich völlige Unterdrückung als unmöglich erwies, konnten die Gegner von Lukrez und Epikur immerhin einigen Trost darin finden, dass die meisten gedruckten Ausgaben des Gedichts Gegenerklärungen enthielten. Eine der interessantesten davon findet sich in der Ausgabe, die Montaigne benutzt hat, in der 1563 von Denys Lambin kommentierten Edition. Es sei wahr, räumt dieser ein, dass Lukrez die Unsterblichkeit der Seele leugne, die göttliche Vorsehung ablehne und behaupte, Lust sei das oberste Gut. Doch selbst »wenn dieses Gedicht unserer Religion fremd ist«, so Lambin weiter, »dann ist es nicht weniger ein Gedicht«. Sobald die Trennungslinie zwischen den Überzeugungen des Werkes und seinen künstlerischen Verdiensten gezogen ist, lässt sich die Poesie in all ihrer Kraft unbeschadet anerkennen: »Nur ein Gedicht? Nein, ein elegantes Gedicht, ein prachtvolles Gedicht,
ein Gedicht, das alle weisen Männer hochschätzen, anerkennen und preisen.« Was aber ist mit den Inhalten dieses Gedichts, den »verrückten und wahnsinnigen Ideen eines Epikur, diesen Absurditäten über die zufällige Konjunktion von Atomen, über unzählige Welten und so weiter?« Gute Christen, so beruhigt Lambin, die sicher seien in ihrem Glauben, müssten sich keine Sorgen machen: »Weder ist es schwierig für uns, jene zurückzuweisen, noch ist dies wirklich notwendig, wo diese doch gewisslich von der Stimme der Wahrheit selbst widerlegt werden, oder von jedem, der sie mit Schweigen übergeht.« 13 Verleugnung changiert in Beruhigung, die ganz subtil mit einer Warnung verbunden wird: Singe das Lob dieses Gedichts, doch schweige über seine Vorstellungen.
Wer die Schönheit von Lukrez’ Versen genießen wollte, musste die lateinische Sprache sehr gut beherrschen. Darum beschränkte sich die Zirkulation des Gedichts auf eine relativ kleine Elite. Jedem in dieser Gruppe war klar, dass Versuche, es
Weitere Kostenlose Bücher