Wende
präsentierten die Theologen von Trient diese erfindungsreichen Argumente nicht als disputable Theorie, sondern als unbezweifelbare Wahrheit, und diese war mit Epikur und Lukrez völlig unvereinbar. Das Problem, das Kirche und Theologie mit diesen Denkern hatten, war nicht, dass sie Heiden waren – das galt schließlich auch für Aristoteles –, sondern es bestand in ihrer Naturlehre. Dem Atomismus zufolge können Akzidentien (die Eigenschaften) und die zugehörige Substanz nicht unabhängig voneinander existieren, darum bedroht er das prächtige, auf aristotelischen Fundamenten errichtete Denkgebäude. Dass diese Bedrohung ausgerechnet jetzt so deutlich wahrgenommen wurde, lag daran, dass just zur gleichen Zeit die Protestanten mit ihren Angriffen auf die Fundamente der katholischen Lehre begonnen hatten. Diese basierten
zwar nicht auf dem Atomismus – Luther, Zwingli und Calvin waren alles andere als Epikureer, so wenig wie zuvor Wycliffe oder Hus –, doch für die militanten, hochgerüsteten gegenreformatorischen Kräfte in der katholischen Kirche sah es so aus, als eröffne das Wiederauftauchen des antiken Materialismus eine bedrohliche zweite Front. Tatsächlich konnte es den Anschein haben, als gebe der Atomismus den Reformatoren so etwas wie eine geistige Massenvernichtungswaffe an die Hand. Und die Kirche war entschlossen, dafür zu sorgen, dass niemand diese Waffe in die Hand bekam: Ihr gedankenpolizeilicher Arm, die Inquisition, war gerüstet und bereit, jedes tatsächliche oder angebliche Zeichen der Proliferation dieser Waffe aufzudecken und zu ahnden.
So erklärte ein Sprecher der Jesuiten 1624: »Der Glaube muss den ersten Platz unter allen anderen Gesetzen der Philosophie einnehmen, damit das, was mit gesicherter Autorität Gottes Wort ist, nicht der Falschheit ausgesetzt wird.« Eine unmissverständliche Aufforderung, sich jeder inakzeptablen Spekulation zu enthalten: »Damit er die Wahrheit, die eine und einfach ist, erkennen kann, ist für den Philosophen einzig nötig, dem entgegenzutreten, was gegen den Glauben ist, und das anzunehmen, was im Glauben enthalten ist. 9 Der Jesuit nannte keinen spezifischen Adressaten dieser Aufforderung, doch Zeitgenossen werden ohne weiteres verstanden haben, gegen wen sich diese Worte richteten: nämlich gegen den Autor einer 1623 gedruckten Schrift. Ihr Titel war Il saggiatore (»Der Prüfer mit der Goldwaage«), der Verfasser Galileo Galilei.
Galilei steckte bereits in Schwierigkeiten, weil er mit Hilfe seiner astronomischen Beobachtungen die kopernikanische Behauptung stützte, wonach sich die Erde auf einer Umlaufbahn um die Sonne bewege. Von der Inquisition heftig bedrängt, hatte er geschworen, diese Behauptung nicht weiter zu befördern. Doch wie Il saggiatore zeigte, bewegte sich der Wissenschaftler weiterhin auf äußerst gefährlichem Terrain. Wie Lukrez argumentierte auch Galilei für die Einheit der irdischen und der himmlischen Welt: Es gebe, schrieb er, keinen wesentlichen Unterschied zwischen der Natur der Sonne und der Planeten und der Natur der Erde und ihrer Bewohner. Wie Lukrez glaubte er, alles im Universum könne und solle allein durch den geordneten Gebrauch von Beobachtung und Vernunft verstanden werden. Wie Lukrez bestand er auf dem Zeugnis der Sinne,
und das, wenn es sein musste, auch gegen die orthodoxen Behauptungen der Lehrautoritäten. Wie Lukrez versuchte er, von diesem Zeugnis zu einem rationalen Verständnis der verborgenen Strukturen aller Dinge zu gelangen. Und schließlich war er, ebenfalls wie Lukrez, davon überzeugt, dass diese Strukturen von der Natur durch das, was er »minimi« – kleinste Partikel – nannte, konstituiert würden; mit anderen Worten: von einem begrenzten Repertoire von Atomen, die sich auf immer neue, unzählige Weisen verbänden.
Galilei hatte Freunde an höchster Stelle: Il saggiatore war niemand anderem als Urban VIII. gewidmet, der 1623 zum Papst gewählt wurde und zuvor, noch als Kardinal Maffeo Barberini, die Studien Galileis gefördert hatte. Solange auch der Papst bereit oder in der Lage war, ihn zu schützen, konnte Galilei hoffen, dass er seine Ansichten unbeschadet darstellen und auch mit seinen Beobachtungen fortfahren konnte, aus denen er jene entwickelte. Doch der Papst geriet unter wachsenden Druck, sich gegen das zu wenden, was viele Kleriker, allen voran die Jesuiten, als besonders gefährliche Ketzereien betrachteten. Am 1. August 1632 setzte die Societas Jesu Verdammung und
Weitere Kostenlose Bücher