Wende
erstellen. Wie sie mit ihren Kindern in einem Zimmer sitzt, an den Fäden des Stramin ihrer Stickerei Silben abzählt, so diente die puritanische Lucy Hutchinson den winzigen Atompartikeln, die Lukrez in Bewegung gesetzt hatte, Aberhunderte von Jahren zuvor, als einer der Transmitter.
Als Lady Hutchinson ihre Übersetzung widerstrebend an Anglesey sandte, war die Vorstellung dessen, was sie »den verrückten, ungeordneten Tanz der Atome« nannte, längst wieder in die geistige Imagination Englands eingedrungen. Edmund Spenser hatte einen ekstatischen, unübersehbar lukrezischen Hymnus an Venus geschrieben; Bacon hatte herausgefunden, dass »in der Natur nichts wahrhaft wirklich [ist] als nur die einzelnen Körper mit ihren reinen und gesetzmäßigen Wirksamkeiten«; 22 Thomas Hobbes hatte ironisch über das Verhältnis von Furcht und religiösen Illusionen nachgedacht.
In England hatte es sich wie anderswo in Europa auch als einigermaßen schwierig, aber nicht unmöglich herausgestellt, den Glauben an Gott aufrechtzuerhalten, den man ja als Schöpfer der Atome betrachten konnte. 23 In diesem Sinn nannte sich auch Isaac Newton einen Atomisten – in einer Schrift, die als eine der einflussreichsten in der Wissenschaftsgeschichte gilt. Und er tat dies mit einer Wendung, die man als direkte Anspielung auf den Titel des Lukrez-Gedichts verstehen kann:
Solange die Theilchen als Ganzes bestehen bleiben, können sie zu allen Zeiten Körper einer und derselben Natur und Bauart zusammensetzen, sollten sie aber abgenutzt werden oder zerbrechen, so würde sich die Natur der von ihnen abhängigen Körper verändern (the Nature of Things depending on them, would be changed).
Gleichzeitig achtete Newton sehr genau darauf, einen göttlichen Schöpfer anzurufen. Ebenfalls in seiner Optik (1718) heißt es:
Nach allen diesen Betrachtungen ist es mir wahrscheinlich, dass Gott im Anfange der Dinge die Materie in massiven, harten, undurchdringlichen und beweglichen Partikeln erschuf, von solcher Größe und Gestalt, mit solchen Eigenschaften und solchen Verhältniss zum Raume, wie sie zu dem Endzwecke führten, für den er sie gebildet hatte, dass ferner diese primitiven Theilchen, weil sie fest sind, unvergleichlich härter sind, als irgendwelche aus ihnen zusammengesetzte poröse Körper, ja so hart, dass sie nimmer verderben oder zerbrechen können, denn keine Macht von gewöhnlicher Art würde im Stande sein, das zu zertheilen, was Gott selbst bei der ersten Schöpfung als Ganzes schuf. 24
Vom 17. Jahrhundert an bis in unsere Zeit erschien es für Newton wie für andere Wissenschaftler möglich, den Atomismus mit dem christlichen Glauben zu vereinbaren. Dennoch waren Hutchinsons Befürchtungen keineswegs gegenstandslos. Lukrez’ Materialismus trug dazu bei, den Skeptizismus von Denkern wie Dryden oder Voltaire hervorzutreiben und zu untermauern, ebenso den vernichtenden Unglauben, wie er bei Diderot, Hume und vielen anderen Aufklärern zum Ausdruck kam.
Was noch jenseits des Horizonts dieser so weitsichtigen Geister lag, waren die erstaunlichen empirischen Beobachtungen und experimentellen Beweise, mit denen die Prinzipien des antiken Atomismus auf eine ganz andere Ebene gehoben wurden. Als sich Charles Darwin im 19. Jahrhundert daranmachte, das Rätsel des Ursprungs der menschlichen Spezies zu lösen, musste er sich nicht auf Lukrez’ Vorstellung eines vollständig natürlichen, ungeplanten Prozesses von Entstehung und Zerstörung beziehen, der sich durch die sexuelle Reproduktion unablässig erneuert. Diese Vorstellungen hatten die Evolutionstheorien von Erasmus Darwin beeinflusst; dessen Enkel Charles konnte seine Argumentation auf seine Forschungen auf den Galapagosinseln und anderswo gründen. Auch als Albert Einstein über Atome schrieb, stützen sich seine Überlegungen auf experimentelle und mathematische Wissenschaft, nicht auf die antike philosophische Spekulation. Diese aber, und Einstein wusste und anerkannte das, hatte
den Grund gelegt, die Bühne bereitet für die empirischen Beweise, auf denen der moderne Atomismus beruht. Dass das antike Gedicht nun ohne Schaden ungelesen bleiben konnte, dass das Drama von Verlust und Wiederentdeckung in Vergessenheit geraten, dass das Gleiche bis zum fast vollständigen Verschwinden mit Poggio Bracciolini geschehen konnte – das alles sind Zeichen dafür, dass Lukrez in den Hauptstrom des modernen Denkens aufgenommen worden ist.
Zu denen, für die Lukrez, noch bevor
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