Wende
Antwort ist bezeichnend. Anfänglich, so schreibt sie, habe sie gar nicht realisiert, wie gefährlich dieser Lukrez sei, aus »jugendlicher Neugier« habe sie die Übersetzung begonnen, »um Dinge zu verstehen, von denen ich so viel aus zweiter Hand gehört habe«. 18 Diese Bemerkung erlaubt uns einen Einblick in jene geräuscharmen Konversationen, die nicht in der Lesehalle stattfanden, auch von der Kanzel war nichts dergleichen zu hören, abseits der gespitzten Ohren der Behörden wurden Lukrez’ Ideen debattiert und erwogen. Und diese talentierte, gebildete Frau wollte selbst herausfinden, worüber die Männer ihrer Welt diskutierten.
Als ihre religiösen Überzeugungen gereift seien, schreibt Hutchinson weiter, sie in »Licht und Liebe« gewachsen sei, da seien ihr Neugierde wie auch der Stolz, den sie in gewissem Sinn noch immer empfunden habe, je weiter sie vorangekommen sei, immer saurer geworden:
Das bisschen Ruhm, das ich unter einigen meiner intimsten Freunde dafür genoss, dass ich diesen schwierig zu lesenden Dichter verstehe, wurde zu Scham, und ich kam darauf, dass ich ihn niemals verstanden habe, bevor ich ihn nicht zu verabscheuen lernte und ein mutwilliges Spiel mit gotteslästerlichen Büchern fürchtete. 19
Nochmals fragt man sich, wenn dem tatsächlich so war, warum wollte sie dieses mutwillige Spiel anderen zugänglich machen? Sie selbst sagt, sie habe einfach nur Angleseys Bitte entsprechen wollen, er wollte in dieses Buch schauen dürfen, das zu verstecken sie ihn nun anflehte. Verstecken, nicht zerstören. Irgendetwas hielt sie davon ab, ihn zu drängen, es dem Feuer zu
überantworten, und das hatte gewiss nicht nur etwas mit dem Exemplar zu tun, das sie ohnehin schon aus der Hand gegeben hatte – warum hätte sie das hindern sollen? Es war wohl auch mehr im Spiel als der Stolz auf ihre Leistung. Nein, die überzeugte Puritanerin antwortete auf Miltons prinzipielle Ablehnung der Zensur. Und schließlich habe sie auch »einigen Gewinn daraus gezogen, denn es zeigte mir, dass unsinniger Aberglaube fleischliche Motive in den Atheismus treibt«. 20 Mit anderen Worten, sie hatte an Lukrez gelernt, dass kindische Fabeln, gedacht, die Frömmigkeit zu stärken, nur dazu führen, dass vernünftige Intelligenz in Unglauben umschlägt.
Vielleicht fiel es Hutchinson auch besonders schwer, gerade dieses Manuskript zu zerstören; sie schreibt:
Ich übertrug es in einem Raum ins Englische, in dem meine Kinder sich in den Eigenschaften übten, die ihnen von ihren Hauslehrern beigebracht wurden, und ich zählte die Silben meiner Übersetzung mithilfe der Fäden des Leinwandstramin, und schrieb sie nieder mit einer Feder und Tinte, die neben mir standen. 21
Lukrez hat darauf bestanden, dass Dinge, die vollkommen losgelöst erscheinen von der materiellen Welt – Gedanken, Ideen, Phantasien, auch die Seele –, gleichwohl untrennbar seien von den Atomen, die sie bilden: in diesem Fall die Feder, die Tinte, die Fäden von Hutchinsons Handarbeit, an denen sie die Silben ihrer Verse zu zählen pflegte. Nach seiner Theorie hängen sogar Visionen, innere Bilder von feinsten Schichten aus Atomen ab, die sich als leichter Film unaufhörlich von den Dingen lösen und als Bilder oder Simulacra durch die Leere fluten, bis sie auf das wahrnehmende Auge treffen. So komme es auch, erläutert er, dass Menschen, die sehen, was sie für Geister halten, sich fälschlicherweise von der Existenz des Jenseits überzeugen ließen. Solche Erscheinungen seien aber nicht die Seelen der Toten, sondern Atome, die auch nach Tod und Auflösung der Person, von der sie ausgingen, als feiner Film noch immer durch die Welt schwebten. Irgendwann würden auch diese Filme sich auflösen, bis dahin aber könnten sie die Lebenden in Staunen und Schrecken versetzen.
Diese Theorien mögen uns heute rührend oder lächerlich erscheinen, doch als Bild für das merkwürdige Nachleben des Lukrez’schen Gedichts
könnten sie durchaus dienen – eines Gedichts, das fast auf immer verschwunden wäre, aufgelöst in zufällige Atome, das dann aber doch noch irgendwie überlebte. Aber nur, weil eine Folge von Menschen, an einer Reihe von Orten und zu verschiedenen Zeiten, aus Gründen, die weitgehend zufällig erscheinen, dem materiellen Objekt begegnet sind – Papyrus oder Pergament oder Papier mit Tintenzeichen darauf, Zeichen, die Titus Lucretius Carus zugeschrieben werden – und sich dann daransetzten, eine eigene materielle Kopie zu
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