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Wende

Wende

Titel: Wende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Greenblatt
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einem breiteren lesenden Publikum zugänglich zu machen, tiefsten Verdacht und Feindseligkeit der Behörden wecken würden. 1417 hatte Poggio das Gedicht entdeckt, über zweihundert Jahre gingen danach ins Land, bevor dieser Versuch ernsthaft unternommen wurde.
    Im 17. Jahrhundert wurden der Druck der neuen Wissenschaften, eines weiter ausgreifenden Denkens, und damit die Verführungskraft des großen Gedichts so groß, dass es sich nicht länger unter Verschluss halten ließ. Pierre Gassendi (1592–1655), der brillante französische Astronom, Philosoph und Priester, unternahm einen gewagten Versuch, Epikureismus und Christentum miteinander zu versöhnen, und einer seiner bemerkenswertesten Schüler, der Theaterschriftsteller Molière (1622–1673), bemühte sich um eine in Versen gefasste Übertragung von De rerum natura ins Französische, die sich leider nicht erhalten hat. Eine Prosaausgabe lag da schon vor, verfasst von Abbé Michel de Marolles (1600–1681). Nicht lange danach begann eine handschriftliche italienische Übersetzung des Mathematikers Alessandro Marchetti (1633–1714) zu zirkulieren, sehr zum Unmut der römischen Kirche, die deren Drucklegung noch Jahrzehnte erfolgreich verhindern konnte. In England übersetzte der wohlhabende Tagebuchautor John Evelyn (1620–1706) das erste Buch des Gedichts; eine vollständige Version in heroischen Couplets (Reimpaare in fünffüßigen Jamben) legte 1682 der junge, in Oxford ausgebildete Gelehrte Thomas Creech vor.
    Dessen Lukrez wurde, als das Buch im Druck erschien, als erstaunliche Leistung gefeiert, allerdings zirkulierte zur Zeit seines Erscheinens, in allerdings sehr kleinem Kreis, bereits eine englische Übersetzung fast des gesamten Gedichts, ebenfalls in Couplets, die aus einer unerwarteten Quelle stammte. Übersetzerin war die Puritanerin Lucy Hutchinson, die Ehefrau des Colonel John Hutchinson, eines Parlamentariers, Mitstreiters von Oliver Cromwell und Mitunterzeichners des Todesurteils gegen König Karl I. Vielleicht am bemerkenswertesten an dieser Übersetzung ist, dass die gebildete Lady, die ihre Arbeit am 11. Juni 1675 Arthur Annesley, dem ersten Earl of Anglesey, widmete, in dieser Widmung erklärte, sie lehne das Gedicht in seinen wesentlichen Prinzipien ab und hoffe, dass es vom Erdboden verschwinden werde.
    Sie hätte, so steht es im handschriftlichen Widmungsbrief, die Verse gewiss dem Kaminfeuer übergeben, »wären sie ihr nicht durch ein Missgeschick in einer verlorenen Ausgabe abhanden gekommen«. 14 Das klingt zunächst vertraut: eine Geste weiblicher Bescheidenheit. Lucy Hutchinson verstärkt diesen Eindruck noch, weil sie sich weigerte, auch die mehreren hundert Verse des vierten Buches zu übersetzen, die sehr offen über sexuelle Dinge sprechen. Sie notierte am Rand: »Viel wurde hier einer Hebamme zu übersetzen überlassen, denn deren indezenter Kunst würde das besser anstehen als einer feinen Feder.« (»Much here was left out for a midwife to translate whose obscene art it would better become than a nicer pen.«) Tatsächlich aber hat sich Lucy Hutchinson nicht für das gerechtfertigt, was sie ihre »inspirierende Muse« nennt; 15 verabscheut hat sie allerdings »alles Atheistische und Gotteslästerliche« in Lukrez’ Werk.
    Der, wie Hutchinson schreibt, »wahnsinnige« Lukrez sei nicht besser als jene anderen heidnischen Philosophen und Dichter, die Schülern von ihren Tutoren regelmäßig empfohlen würden; diese erzieherische Praxis sei
    eines der großen Mittel, um die gebildete Welt zu verderben, sie zumindest in solcher Verderbnis und Schwelgerei der Seele zu bestätigen, in welche ihre erste Sünde sie führt, sie zudem noch auch an der Besserung zu hindern, indem sie alle Ströme der Wahrheit, die aus göttlicher Gnade auf sie herunterrinnen, mit heidnischem Schmutz eintrübt. 16
    Ein Jammer und ein Schrecken sei es, dass nun, in diesen Tagen des Heils, die Menschen Lukrez läsen und seinen »lächerlichen, gotteslästerlichen, verdammungswürdigen Lehren« anhingen, die »den verrückten, ungeordneten Tanz der Atome wieder beleben«. 17
    Warum aber, wenn sie denn wirklich lieber gesehen hätte, dass diese Verruchtheit verschwinden würde, warum hat sie derart penibel an einer Übersetzung in Versform gearbeitet, warum einen professionellen Schreiber dafür bezahlt, dass er die ersten fünf Bücher ins Reine schrieb, warum sorgfältig Buch sechs kopiert und mit Argumenten und Marginalien eigener Hand versehen?
    Ihre

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