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Wendekreis des Krebses

Wendekreis des Krebses

Titel: Wendekreis des Krebses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Miller
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dieser Geste schneidet mir ins Herz. Es ist fast, als trinke er den letzten Rest menschlicher Sympathie hinunter, als ob alle Liebe und alles Mitgefühl in der Welt so auf einen Zug weggeschluckt werden könnten, als wäre das alles, was Tag für Tag zusammengepreßt werden konnte. Man hat ihn zu etwas weniger als einem Karnickel gemacht. In der Planung der Dinge ist er nicht einmal das Pökelwasser für einen Hering wert. Er ist nur ein Stückchen lebender Dreck. Und er weiß es. Wenn er nach seinem Trunk um sich blickt und uns anlächelt, scheint die Welt in Trümmer zu fallen. Es ist ein Lächeln über einen Abgrund hinweg. Die ganze verrottete zivilisierte Welt liegt wie sumpfiger Bodensatz auf dem Grund der Grube, und darüber hinweg huscht wie eine Fata Morgana sein unschlüssiges Lächeln.
    Das gleiche Lächeln begrüßte mich nachts, wenn ich von meinem Bummel zurückkehrte. Ich erinnere mich an eine solche Nacht, als mich, während ich an der Tür stand und wartete, bis der alte Bursche seinen Rundgang beendete, ein solches Glücksgefühl überkam, daß ich ewig so hätte warten können. Ich mußte etwa eine halbe Stunde warten, ehe er die Tür öffnete. Ich blickte ruhig und lässig um mich, trank alles in mich, die kahlen Bäume vor der Schule mit ihren wie Taue verschlungenen Ästen, die Häuser über der Straße, die im Laufe der Nacht eine andere Färbung angenommen hatten und jetzt einen deutlicher wahrnehmbaren Bogen bildeten, das Geräusch eines durch die sibirische Öde rollenden Zuges, die von Utrillo gemalten Schienen, den Himmel, die tiefen Wagenspuren. Plötzlich erschien aus dem Nichts ein Liebespaar. Alle paar Meter blieben die beiden stehen und umarmten sich, und als ich ihnen nicht länger mit dem Blick folgen konnte, folgte ich dem Geräusch ihrer Schritte, hörte ich das plötzliche Stehenbleiben und dann das langsame, eng umschlungene Weitergehen. Ich konnte die Entspannung und das Sich-sinken-lassen ihrer Leiber fühlen, wenn sie sich an ein Geländer lehnten, hörte ihre Schuhe knirschen, wenn die Muskeln sich zur Umarmung spannten. Sie wanderten durch die Stadt, durch die krummen Straßen, dem erstarrten Kanal zu, wo das Wasser pechschwarz dalag. Dem Ganzen haftete etwas Einmaliges an. In ganz Dijon gab es nicht ihresgleichen.
    Inzwischen machte der alte Knabe seine Runde. Ich konnte das Klirren seiner Schlüssel hören, das Knirschen seiner Schuhe, den gleichmäßigen, roboterhaften Schritt. Endlich hörte ich ihn durch die Anfahrt kommen, um das große Tor zu öffnen, ein ungeheures, gewölbtes Portal ohne Burggraben davor. Ich hörte ihn mit steifen Fingern, benommenen Kopfes, das Schloß suchen. Als der Torflügel aufschwang, sah ich ihm zu Häupten ein leuchtendes Sternbild die Kapelle krönen. Jede Tür war versperrt, jede Zelle verriegelt. Die Bücher waren zugeklappt. Die Nacht hing tief, mit Fußnotensternchen übersät, trunken wie ein Besessener. Hier war sie, die Unendlichkeit der Leere. Über der Kapelle hing das Sternbild wie die Mitra eines Bischofs jede Nacht während der Wintermonate, hing da, tief über der Kapelle. Tief und funkelnd, eine Handvoll Fußnotensternchen – das Glitzern absoluter Leere. Der alte Knabe folgte mir zur Biegung der Auffahrt. Die Tür schloß sich geräuschlos. Als ich ihm gute Nacht wünschte, fing ich wieder dieses verzweifelte, hoffnungslose Lächeln auf, das wie ein meteorisches Aufblitzen am Rande einer verlorenen Welt war. Und wieder sah ich ihn im Speisesaal stehen, den Kopf zurückgebeugt, während die Rubinen seinen Schlund hinunterrieselten. Das ganze Mittelmeergebiet schien in ihm begraben – die Orangenhaine, die Zypressen, die geflügelten Statuen, die hölzernen Tempel, das tiefblaue Meer, die starren Masken, die mystischen Zahlen, die mythologischen Vögel, die saphirenen Himmel, die jungen Adler, die sonnigen Buchten, die blinden Barden, die bärtigen Helden. Alles dahin. Begraben unter der Lawine des Nordens. Für immer begraben und tot. Eine Erinnerung. Eine wilde Hoffnung.
    Einen Augenblick blieb ich an der Auffahrt stehen. Das Leichentuch, das Bahrtuch, die unaussprechliche, beklemmende Leere des Ganzen. Dann gehe ich rasch den Kiesweg an der Mauer entlang, an den Arkaden, den Säulen und eisernen Treppen vorbei, von einem Gebäudeviereck zum anderen. Alles ist fest verschlossen. Verschlossen für den Winter. Ich taste mich zu dem Säulengang, der zum Schlafsaal führt. Ein kränkliches Licht fällt durch die schmutzigen,

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