Wendekreis des Krebses
rückwärtige Seitenfront der Kirche, mähen die Statuen nieder, ebnen die Denkmäler ein, entwurzeln die Bäume, lassen das Gras erstarren und saugen der Erde den Duft aus. Die Blätter sind stumpf wie Zement: Blätter, die kein Tau wieder zum Glänzen bringen kann. Kein Mond wird jemals ihren teilnahmslosen Zustand versilbern. Die Jahreszeiten sind zu einem stagnierenden Halt gekommen, die Bäume scheuen zurück und welken, die Wagen rollen mit gleitendem, wie Harfen tönendem Dröhnen auf den schimmernden Geleisen. In der Senkung der weißgekrönten Hügel schlummert gespenstisch und knochenlos Dijon. Kein lebender Mensch, der durch die Nacht wandert, außer den ruhelosen Geistern, die nach Süden dem saphirblauen Schienennetz entgegenziehen. Dennoch bin ich auf und da, ein wandelndes Gespenst, ein von der kalten Sachlichkeit dieser Schlachthaus-Geometrie eingeschüchterter Weißer. Wer bin ich? Was tue ich hier? Ich stürze zwischen die kalten Mauern menschlicher Bosheit, eine weiße Gestalt, die durch den kalten See hinabgaukelt, hinabsinkt, einen Schädelberg über mir. Ich lasse mich nieder in den kalten Breiten, die Kreidestufen sind mit Indigo getönt. Die Erde kennt in ihren tiefen Gängen meinen Schritt, fühlt einen Fuß unterwegs, ein Schwingenschlagen, ein Keuchen und ein Schaudern. Ich höre die Gelehrsamkeit verspottet und verhöhnt, die Gestalten steigen nach oben und schlagen mit ihren goldenen Pappmacheflügeln, Fledermausdreck tropft herab. Ich höre die Züge zusammenstoßen, die Ketten rasseln, die Lokomotive anziehen, schnaufen, keuchen, dampfen und pissen. Alle Dinge kommen durch den klaren Nebel auf mich zu mit dem Geruch der Wiederholung, mit gelben Katern und Götzen. Im toten Mittelpunkt, tief unter Dijon, tief unter den arktischen Regionen, steht Gott Ajax, seine Schultern sind ans Mühlrad gefesselt, die Ölbäume bewegen sich unter knirschendem Geräusch, das grüne Sumpfwasser wimmelt von quakenden Fröschen.
Der Nebel und Schnee, der kalte Breitengrad, das angestrengte Lernen, der blau schillernde Kaffee, das Brot ohne Butter, die Suppe und die Linsen, die schweren Metzgerburschenbohnen, der muffige Käse, der pampige Eintopf, der schlechte Wein haben die ganze Besserungsanstalt in einen Verstopfungszustand versetzt. Und gerade als keiner mehr scheißen kann, frieren die Lokusröhren ein. Die Scheiße häuft sich wie Ameisenhügel. Man muß von dem Fußtritt heruntersteigen und sie auf den Fußboden fallen lassen. Dort liegt sie steif und gefroren und wartet aufs Tauwetter. An den Donnerstagen kommt der Bucklige mit seinem kleinen Schubkarren, schaufelt die kalten, steifen Scheißhaufen mit Besen und Kehrichtschaufel zusammen und humpelt, sein welkes Bein nachschleppend, davon. Die Gänge sind mit Toilettenpapier übersät; es bleibt einem wie Fliegenpapier an den Sohlen kleben. Wenn das Wetter milder wird, fängt es an zu stinken; man kann es bis zu dem vierzig Meilen entfernten Winchester riechen. Steht man am Morgen über diesen reifen Dunghaufen gebeugt da, um sich die Zähne zu putzen, ist der Gestank so greulich, daß einem der Kopf schwindelt. Wir stehen in roten Flanellhemden herum und warten darauf, bis wir in das Loch hinunterspucken können. Es klingt wie eine Arie aus einer Verdi-Oper, ein geschäftiger Chor mit Flaschengeklirr und Spritzen. Wenn ich nachts hinaus muß, laufe ich hinunter in die Privattoilette von Monsieur le Censeur, die gerade bei der Einfahrt gelegen ist. Mein Stuhlgang ist immer voll Blut. In seiner Toilette läuft ebenfalls kein Wasser, aber wenigstens hat man das Vergnügen, sich setzen zu können. Ich hinterlasse ihm mein Häufchen als Achtungsbeweis.
Gegen Ende der Mahlzeit kommt jeden Abend der veilleur de nuit für die ihm zustehende Aufmunterung herein. Er ist der einzige Mensch in der ganzen Anstalt, dem ich mich verwandt fühle. Er ist ein Niemand. Er trägt eine Laterne und einen Schlüsselbund. Er macht die nächtliche Runde, stur wie ein Roboter. Ungefähr zu dem Zeitpunkt, wo der muffige Käse herumgereicht wird, erscheint er auf ein Gläschen Wein. Er steht da, seine Pfote ausgestreckt, mit dem steifen, drahtigen Haar einer Dogge, geröteten Wangen und vom Schnee glitzerndem Schnurrbart. Er murmelt ein paar Worte, und Quasimodo reicht ihm die Flasche. Dann, mit fest auf den Boden gesetzten Füßen, beugt er den Kopf zurück und hinunter rinnt es, langsam, in einem langen Zug. Mir ist, als schütte er Rubinen in seinen Schlund. Etwas an
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