Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wendekreis des Krebses

Wendekreis des Krebses

Titel: Wendekreis des Krebses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Miller
Vom Netzwerk:
Wenn je die Sonne schien, so erinnere ich mich jedenfalls nicht daran. Ich erinnere mich nur an die kalten, glitschigen Nebel, die von den gefrorenen Sümpfen herüberwehten, wo die Eisenbahnschienen sich zwischen den düsteren Hügeln verkrochen. Unten in der Nähe des Bahnhofs gab es einen Kanal – oder vielleicht war es ein Fluß –, unter einem gelben Himmel versteckt, mit kleinen, dicht an den ansteigenden Uferhängen hingeklebten Hütten. Auch eine Kaserne gab es irgendwo, das fiel mir auf, denn immer wieder begegnete ich dann und wann kleinen Gelbgesichtern aus Indochina, verhutzelten, opiumgesichtigen Zwergen, die wie ausgedörrte, in Hobelspäne verpackte Skelette in ihren viel zu weiten Uniformen steckten. Die ganze gottverdammte Mittelalterlichkeit des Ortes war höllisch aufreizend und eigenwillig, wiegte sich mit leisem Stöhnen hin und her und sprang einen aus den Dachtraufen an, hing wie gehenkte Verbrecher von den Wasserspeiern herab. Immer wieder wandte ich mich um, ging wie ein Krebs, den man mit einer schmutzigen Gabel anstachelt. Alle diese dicken, kleinen Ungeheuer, diese steingehauenen Bilder, die der Fassade der Eglise St. Michel angekleistert waren, verfolgten mich durch die gewundenen Gassen und um die Ecken. Die ganze Fassade von St. Michel schien sich nachts aufzublättern wie ein Album, so daß man dem Schrecken der bedruckten Seite von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand. Wenn die Lichter erloschen und die eingemeißelten Zeichen leblos, tot wie Worte, verblaßten, dann war die Fassade wirklich schön. In jeder Spalte der alten, verwitterten Front heulte der dumpfe Sang des Nachtwindes, und über dem spitzenartigen Füllwerk kalter, steifer Verzierungen braute ein absinth-farbener Dunst von Nebel und Frost.
    Hier, wo die Kirche stand, schien alles mit der Hinterseite nach vorne dazustehen. Die Kirche selbst muß vor Jahrhunderten des Fortschritts in Regen und Schnee von ihrer Grundfläche verschoben worden sein. Sie lag auf der Place Edgar-Quinet, gegen den Wind gestemmt wie ein totes Maultier. Durch die Rue de la Monnaie wehte der Wind wie weißes, wild flatterndes Haar. Er wirbelte um die weißen Verkehrssäulen, welche die freie Durchfahrt von Omnibussen und mit zwanzig Maultieren bespannten Fahrzeugen versperrten. Wenn ich in den frühen Morgenstunden in diesen Durchlaß einbog, begegnete ich manchmal Monsieur Renaud, der mir, wie ein hungriger Mönch in seine Kutte gehüllt, in der Sprache des 16. Jahrhunderts Anerbietungen machte. Während ich mit Monsieur Renaud in Gleichschritt fiel, indes der Mond wie ein geplatzter Ballon durch den trüben Himmel brach, fiel ich sogleich dem Bereich des Übersinnlichen anheim. Monsieur Renaud hatte eine bestimmte, an getrocknete Aprikosen gemahnende, betont Brandenburger Sprechweise. Er pflegte auf mich mit voller Eindringlichkeit von Goethe oder Fichte einzureden, mit tiefen Tönen, die in den windumfegten Ecken des Platzes wie Donnerschläge vom Gewitter des vergangenen Jahres hallten. Männer von Yukatan, Männer von Sansibar, Männer von Tierra del Fuego, rettet mich vor dieser schimmeligen Schweineschwarte! Der Norden baut sich um mich auf, die eisigen Fjorde, die blaugefirnten Gebirgsgrate, die verrückten Beleuchtungen, der obszöne christliche Singsang, der wie eine Lawine alles vom Ätna bis zur Ägäis überflutete. Alles steifgefroren wie Schlacken, der Geist versperrt und erstarrt vom Frost, und durch das melancholische Klagen dringt das erstickte Röcheln läusezerfressener Heiliger. Ich bin weiß und in Wolle vermummt, eingeschnürt, gefesselt, meine Sehnen sind durchschnitten, aber damit habe ich nichts zu schaffen. Weiß bis auf die Knochen, aber mit einer kalten, alkalischen Basis, mit safrangelb getönten Fingern. Ja, weiß, aber kein gelehrsamer Bruder, kein katholisches Herz. Weiß und unbarmherzig wie die Männer, die vor mir die Elbe hinab in See stachen. Ich blicke aufs Meer, auf den Himmel, auf das Undeutliche und Fern-Nahe.
    Der Schnee zu Füßen jagt vor dem Wind dahin, legt sich an, kitzelt, prickelt, berührt einen mit den Lippen, wirbelt empor, rieselt, spaltet sich, sprüht hernieder. Keine Sonne, keine dröhnende Brandung, kein Brausen von Sturzseen. Der kalte Nordwind zielt eisig, böse, gierig, zerstörend, lähmend mit spitzen Pfeilen. Die Straßen enteilen mit krummen Biegungen; sie lösen sich los von dem flüchtigen Schauspiel, dem Sternenglanz. Sie humpeln durch das Gestöber hinweg, umrunden die

Weitere Kostenlose Bücher