Wendekreis des Krebses
gefrorenen Scheiben auf die Treppe. Überall blättert der Anstrich ab. Die Steine sind ausgetreten, das Treppengeländer knarrt. Eine dunstige Feuchtigkeit dringt aus den Fußbodenplatten und bildet eine blasse, trübe Aura, die von dem schwachen roten Licht vom oberen Treppenabsatz durchdrungen ist. In Schweiß und Schrecken gebadet, steige ich die letzten Stufen zum Turm hinauf. Im Stockdunkeln tappe ich meinen Weg durch die verlassenen Gänge, jeder Raum ist leer, verschlossen, modrig. Meine Hand tastet die Wand entlang auf der Suche nach dem Schlüsselloch. Eine Panik überkommt mich, als ich die Klinke ergreife. Immer habe ich die Hand an meinem Kragen, bereit, mich zurückzureißen. Sobald ich im Zimmer bin, verriegle ich die Tür. Es ist ein Wunder, das ich jede Nacht vollbringe, das Wunder, hineinzugelangen, ohne erdrosselt, ohne mit einem Beil niedergeschlagen zu werden. Ich kann die Ratten durch die Gänge huschen hören, wie sie über meinem Kopf zwischen dem dicken Gebälk nagen. Das Licht glimmt wie brennender Schwefel, und es herrscht der süßlich-stickige Geruch eines nie gelüfteten Zimmers. In der Ecke steht die Kohlenkiste, ganz so, wie ich sie verließ. Das Feuer ist erloschen. Es herrscht eine so eindringliche Stille, daß sie wie die Niagarafälle in meinen Ohren dröhnt.
Ich bin allein – mit einer riesigen, leeren Sehnsucht und Furcht. Das ganze Zimmer steht meinen Gedanken zur Verfügung. Nur ich und was ich denke, was ich fürchte. Ich könnte mir das Phantastischste ausdenken, könnte tanzen, spucken, Grimassen schneiden, fluchen, jammern, niemand würde jemals davon wissen, niemand es hören. Der Gedanke an ein so vollständiges Alleinsein genügt, um mich verrückt zu machen. Es ist wie eine saubere Geburt. Alles weggeschnitten. Abgesondert, nackt, allein. Gleichzeitig eine Wonne und eine Qual. Zeit genug. Jede Sekunde lastet auf einem wie ein Berg. Man ertrinkt darin. Wüsten, Meere, Seen, Ozeane. Die Zeit hackt wie ein Fleischerbeil. Das Nichts. Die Welt. Das Ich und das Nicht-Ich. Umaharamuma . Jedes Ding muß seinen Namen haben. Alles muß erlernt, erprobt, erlebt werden. Faites comme chez vous, chéri .
Die Stille senkt sich in vulkanischen Ergüssen herab. Drüben, bei den kahlen Hügeln, ziehen die Lokomotiven, den großen metallurgischen Regionen zurollend, ihre Handelsprodukte. Sie rollen über Stahl und Eisenbetten, der Boden ist mit Schlacke, Asche und purpurnen Erzbrocken bestreut. Im Gepäckwagen Eisenrohre, Schienenlaschen, Walzeisen, Bodenschwellen, Drahtseile, Platten und Bleche, Metallplättchen, geschmiedete Reifen, Schienen, fahrbare Mörser und Zorès-Metall. Die Räder U-80 Millimeter oder mehr. Sie kommen an prächtigen Beispielen anglo-normannischer Baukunst, an Fußgängern und Päderasten, den offenen Feuern von Hochöfen, Bessemerbirnen, Dynamos und Transformatoren, an Eisengießereien und Stahlbarren vorbei. Alles zusammen, Fußgänger und Päderasten, Goldfische und aus Glas gesponnene Palmen, klagende Esel, all das zirkuliert ungebunden durch die fünffach überkreuzten Wege. An der Place du Brésil ein Lavendelauge.
Im Fluge gehe ich noch einmal die Frauen durch, die ich gekannt habe. Es ist wie eine aus meinem eigenen Elend geschmiedete Kette. Jede mit der anderen verbunden. Eine Angst, allein zu leben, so zu bleiben wie bei der Geburt. Die Pforte des Schoßes immer nur eingeklinkt. Furcht und Sehnsucht. Tief im Blut die Lockung des Paradieses. Das Jenseits. Immer das Jenseits. Es muß alles mit dem Nabel angefangen haben. Man schneidet die Nabelschnur durch, gibt einem einen Klaps auf den Hintern und presto! du bist auf der Welt, dir selbst preisgegeben, ein Schiff ohne Steuer. Du siehst die Sterne an und dann deinen Nabel. Dir wachsen überall Augen – in den Achselhöhlen, zwischen den Lippen, in deinen Haarwurzeln, an deinen Fußsohlen. Was fern ist, wird nah; was nah ist, fern. Inwendig – auswendig, ein ständiger Fluß, ein Hautabstreifen, ein Innen-nach-außen-Kehren. So wird man Jahre um Jahre getrieben, bis man in den toten Mittelpunkt gelangt und dort verfault, langsam verfallt und wieder aufgelöst wird. Nur der Name bleibt übrig.
E s war Frühling, ehe es mir gelang, der Strafanstalt zu entrinnen, und auch dann nur durch einen Glücksfall. Ein Telegramm von Carl unterrichtete mich eines Tages, daß ‹oben› ein Posten frei geworden sei. Er wollte mir das Fahrgeld für die Rückreise senden, wenn ich mich entschloß, anzunehmen. Ich
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