Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wendekreis des Krebses

Wendekreis des Krebses

Titel: Wendekreis des Krebses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Miller
Vom Netzwerk:
drahtete sofort zurück, und sobald die Pinke ankam, stürzte ich zum Bahnhof. Kein Wort zu Monsieur le Proviseur oder sonst jemandem. Ich empfahl mich auf französisch, wie man so sagt.
    Ich ging stracks zu dem Hotel, in dem Carl wohnte. Er kam splitternackt an die Tür. Es war sein freier Abend, und im Bett lag wie gewöhnlich eine Pritsche. «Kümmere dich nicht um sie», meint er, «sie schläft. Wenn du eine Nummer bei ihr schieben willst, kannst du sie haben. Sie ist nicht übel.» Er zieht die Decken zurück, um mir zu zeigen, wie sie aussieht.
    Aber mir war jetzt nicht nach einer Nummer zumute. Ich war zu aufgeregt. Ich war wie ein Mensch, der gerade dem Gefängnis entronnen ist. Ich wollte nur sehen und hören, wie die Dinge standen. Der Weg vom Bahnhof hierher schien mir wie ein langer Traum. Mir war, als sei ich Jahre weggewesen.
    Erst als ich mich gesetzt und mich gut im Zimmer umgesehen hatte, wurde mir bewußt, daß ich wieder in Paris war. Es war Carls Zimmer, darüber konnte kein Zweifel bestehen. Eine Mischung aus Eichhörnchenkäfig und Scheißhaus. Auf dem Tisch war kaum Platz für die Reiseschreibmaschine, die er benutzte. So war es immer, ob er eine Pritsche bei sich hatte oder nicht. Immer lag ein offenes Wörterbuch auf einer Prachtausgabe des Faust , immer ein Tabaksbeutel, eine Baskenmütze, eine Flasche vin rouge , Briefe, Manuskripte, alte Zeitungen, Aquarelle, eine Teekanne, schmutzige Socken, Zahnstocher, Kruschensalz, Präservative usw. Im Bidet Orangenschalen und die Reste eines Schinkenbrotes.
    «Im Schrank liegt was zu essen», sagte er. «Bediene dich selbst! Ich wollte mir gerade eine Einspritzung machen.»
    Ich fand das belegte Brot, von dem er sprach, und daneben ein Stück Käse, an dem er herumgeknabbert hatte. Während er auf dem Bettrand saß und sich Argyrol einspritzte, vertilgte ich das Brot und den Käse mit einem Schluck Wein.
    «Mir gefiel der Brief über Goethe, den du mir geschrieben hast», sagte er, während er seinen Pint mit einer schmutzigen Unterhose abwischte. «Ich zeige dir gleich die Antwort darauf, ich bringe sie in meinem Buch. Die Schwierigkeit bei dir besteht darin, daß du kein Deutscher bist. Man muß Deutscher sein, um Goethe zu verstehen. Scheiße, ich will dir das nicht jetzt erklären. Ich habe das alles in meinem Buch gebracht … Nebenbei bemerkt, ich habe jetzt eine neue Pritsche – nicht die da, das ist eine Idiotin. Wenigstens hatte ich sie noch bis vor ein paar Tagen. Ich bin jetzt nicht sicher, ob sie zurückkommt oder nicht. Sie lebte während der ganzen Zeit, die du fort warst, bei mir. Eines Tages kamen ihre Eltern und holten sie. Sie behaupteten, sie sei erst fünfzehn. Kannst du dir das vorstellen? Sie machten mir die Hölle heiß …»
    Ich fing an zu lachen. Das sah Carl ähnlich, in so einen Schlamassel zu geraten.
    «Warum lachst du?» fragte er. «Ich kann dafür eingesperrt werden. Zum Glück ist nichts passiert. Und das ist merkwürdig, denn sie sah sich nie richtig vor. Aber weißt du, was mich rettete? Jedenfalls glaube ich es. Der Faust . Tjaaa! Ihr alter Herr sah ihn zufällig auf dem Tisch liegen. Er fragte mich, ob ich deutsch verstünde. Eins ergab sich aus dem anderen, und bevor ich mich recht versah, musterte er der Reihe nach meine Bücher. Zum Glück hatte ich gerade auch den Shakespeare aufgeschlagen. Das machte ihm höllischen Eindruck. Er meinte, ich sei offenbar ein sehr ‹ernster› junger Mann.»
    «Wie verhielt sich das Mädchen – was hatte sie zu sagen?»
    «Sie war zu Tode erschrocken. Weißt du, sie hatte eine kleine Uhr dabei, als sie herkam. In der Aufregung konnten wir die Uhr nicht finden, und ihre Mutter bestand darauf, daß die Uhr gefunden werden müßte, oder sie würde die Polizei rufen. Du weißt, wie die Dinge hier sind. Ich stellte die ganze Bude auf den Kopf, konnte aber die verflixte Uhr nicht finden. Die Mutter war wütend. Sie gefiel mir auch, trotz allem. Sie sah sogar hübscher aus als die Tochter. Da, ich zeig dir einen Brief, den ich ihr gerade schreibe. Ich bin verliebt in sie.»
    «In die Mutter? »
    «Natürlich, warum nicht? Wenn ich die Mutter zuerst zu Gesicht bekommen hätte, dann hätte ich die Tochter nie angesehen. Wie hätte ich wissen sollen, daß sie erst fünfzehn war? Man fragt eine Pritsche doch nicht, wie alt sie ist, bevor man sie umlegt, stimmt’s?»
    «Joe, irgendwie klingt das merkwürdig. Du scheißt mich doch nicht an, oder?»
    «Ich dich anscheißen? Da, schau

Weitere Kostenlose Bücher