Wendekreis des Krebses
hinter dem Klavier auf dem Fußboden, während jemand ein trauriges Lied singt. Die Luft ist erstickend, und ihr Atem riecht nach Alkohol. Das Pedal geht steif, automatisch auf und ab, eine verrückte, leere Bewegung wie ein turmhoher Haufen Mist, der siebenundzwanzig Jahre zum Aufbau braucht und diese Zeit genau einhält. Ich ziehe sie über mich mit dem Klang des Kastens in den Ohren; das Zimmer ist dunkel, und der Teppich ist stickig von verschüttetem Kümmel. Plötzlich scheint es, als breche die Morgendämmerung an: es ist wie über Eis rieselndes Wasser, und das Eis ist blau vom steigenden Nebeldunst, in Smaragd getauchte Gletscher, Gemsen und Antilopen, Goldbarsche, weidende Seekühe und der die arktische Kluft überspringende Gelbhecht …
Elsa sitzt auf meinem Schoß. Ihre Augen sind wie kleine Bauchnabel. Ich betrachte ihren großen, so feuchten und glänzenden Mund und bedecke ihn mit der Hand. Jetzt summt sie: « Es so schön gewesen …» Ach Elsa, du weißt nicht, was das für mich bedeutet, dein Trompeter von Säckingen . Deutsche Gesangvereine, die Schwabenhalle, der Turnverein … links um, rechts um … und dann ein Hieb übern Hintern mit dem Tauende.
Ach, die Deutschen! Sie überrollen einen wie ein Omnibus. Sie bereiten einem Verdauungsbeschwerden. Man kann nicht in der gleichen Nacht das Leichenschauhaus, die Klinik, den Zoo, die Zeichen des Tierkreises, die Vorhölle der Philosophie, die Höhlen der Erkenntnistheorie, die Geheimnisse von Freud und Stekel besichtigen … Auf dem Karussell gelangt man nirgendwohin, wohingegen man mit den Deutschen in einer einzigen Nacht von der Wega zu Lope de Vega gelangen kann und dann weggeht so tumb wie Parsifal.
Wie gesagt, der Tag begann strahlend. Erst heute morgen wurde ich mir dieses physischen Paris bewußt, das mich Wochen unberührt gelassen hatte. Vielleicht darum, weil das Buch in mir zu wachsen begonnen hat. Ich trage es überall mit mir herum. Ich wandle mit einem Kind unter dem Herzen durch die Straßen, und die Verkehrspolizisten geleiten mich über den Fahrdamm. Frauen stehen auf, um mir ihren Sitzplatz anzubieten. Niemand stößt mich mehr rücksichtslos. Ich bin schwanger. Ich watschle unbeholfen dahin, meinen dicken Leib dem Gewicht der Welt entgegengestemmt.
Heute morgen auf unserem Weg zum Postamt erteilten wir dem Buch sein endgültiges Imprimatur . Wir haben eine neue Kosmogonie der Literatur entwickelt, Boris und ich. Es soll eine neue Bibel werden – Das letzte Buch . Alle, die etwas zu sagen haben, werden es hier – anonym – sagen. Wir werden das Zeitalter ausschöpfen. Nach uns kein anderes Buch – wenigstens für eine Generation nicht. Bis jetzt schlürften wir im Dunkeln, von nichts als dem Instinkt geleitet. Nun werden wir ein Gefäß haben, um das Lebensfluidum dareinzugießen, eine Bombe, die, wenn wir sie werfen, die Welt in die Luft jagt. Wir werden genug hineinpacken, um den Schriftstellern von morgen ihre Fabeln, ihre Dramen, ihre Gedichte, ihre Mythen, ihre Wissenschaften zu liefern. Die Welt wird für die nächsten tausend Jahre daraus schöpfen können. Das Buch ist ungeheuer in seinem Anspruch. Der Gedanke daran zerschmettert uns fast. An die hundert Jahre war die Welt, unsere Welt, im Absterben. Und kein Mensch war in diesen letzten hundert Jahren verrückt genug, eine Bombe ins Arschloch der Schöpfung zu stecken und sie zu zünden. Die Welt verfault, verfällt stückweise. Aber sie braucht den coup de grâce , sie verlangt danach, in Stücke gesprengt zu werden. Keiner von uns ist intakt, und doch haben wir alle Kontinente in uns und die Meere zwischen den Kontinenten und die Vögel der Luft. Wir wollen das festhalten – die Entwicklung dieser Welt, die gestorben ist, aber nicht begraben wurde. Wir schwimmen an der Oberfläche der Zeit, und alles andere ist untergegangen, geht unter oder wird untergehen. Es wird unerhört werden, dieses Buch. Es wird Ozeane aus Raum enthalten, um sich darin zu bewegen, umherzuwandern, zu singen, zu tanzen, zu klettern, zu baden, Purzelbäume zu schlagen, zu wehklagen, zu vergewaltigen und zu morden. Eine Kathedrale, eine veritable Kathedrale, an deren Bau jeder mithelfen wird, der sein Ich verloren hat. Messen werden darin abgehalten werden für die Toten, Gebete, Beichten, Hymnen werden ertönen und Heulen und Zähneklappern, eine Art mörderischer Sorglosigkeit. Sie wird rosa Fenster haben und Wasserspeier, Meßdiener und Bahrtuchhalter. Man kann sein Pferd mit
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