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Wendekreis des Krebses

Wendekreis des Krebses

Titel: Wendekreis des Krebses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Miller
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toll von einem Pflasterstein zum anderen. Wahrhaftig herkulische Anstrengungen, wenn man näher zusieht. Überall liegt Nahrung umher – im Rinnstein, meine ich. Die schöne Amerikanerin erkundigt sich nach der Toilette. Die Toilette! Darf ich sie dir zeigen, du samtschnäuzige Gazelle? Die Toilette sagtest du? Par ici, madame. N’oubliez pas que les places numérotées sont réser-vées aux mutilés de la guerre .
    Boris reibt sich die Hände – er gibt dem Geschäft den letzten Schliff. Im Hof bellen die Hunde; sie heulen wie die Wölfe. Oben schiebt Mistress Melverness Möbel herum. Sie hat den ganzen Tag nichts zu tun, sie langweilt sich; wenn sie irgendwo ein Staubkörnchen entdeckt, putzt sie das ganze Haus. Auf dem Tisch sind grüne Weintrauben und eine Flasche Wein – vin de choix , 10°. «Ja», sagt Boris, «ich könnte einen Waschständer für Sie aufstellen; kommen Sie bitte hierher. Ja, das ist die Toilette. Es gibt natürlich auch oben eine. Ja, tausend Francs im Monat. Sie haben nicht viel übrig für Utrillo, sagen Sie? Nein, das ist sie. Sie muß nur frisch gestrichen werden, das ist alles …»
    Sie geht jetzt gleich. Boris hat mich diesmal nicht einmal vorgestellt. Dieser Hurensohn! Immer wenn es eine reiche Pritsche ist, vergißt er, mich vorzustellen. In ein paar Minuten werde ich mich wieder hinsetzen und tippen können. Irgendwie habe ich heute keine Lust mehr. Mein Geist versickert. Sie kann in etwa einer Stunde wiederkommen und mir den Stuhl unterm Hintern wegziehen. Wie, zum Teufel, kann ein Mensch schreiben, wenn er nicht weiß, wo er in der nächsten halben Stunde sitzen soll? Wenn diese reiche Henne die Wohnung nimmt, habe ich nicht einmal einen Platz zum Schlafen. Wenn man in einer solchen Klemme steckt, kann man schwer sagen, was schlimmer ist: keinen Platz zum Schlafen oder keinen zum Arbeiten zu haben. Man kann fast überall schlafen, aber zum Arbeiten muß man einen Platz haben. Auch wenn man kein Meisterwerk macht. Sogar zu einem schlechten Roman braucht man einen Stuhl zum Draufsitzen und ein wenig Ungestörtsein. Diese reichen Pritschen denken nie an so etwas. Wann immer sie sich auf ihren weichen Hintern niederlassen wollen, steht stets ein Stuhl für sie bereit …
    Vergangene Nacht verließen wir Sylvester und seinen Gott, wie sie zusammen vor dem Kamin saßen. Sylvester in einem Schlafanzug, Moldorf eine Zigarre zwischen den Lippen. Sylvester schält eine Orange. Er legt die Schalen auf die Sofadecke. Moldorf rückt näher an ihn heran. Er bittet um die Erlaubnis, noch einmal diese glänzende Parodie « Die Tore des Himmels » lesen zu dürfen. Wir machen uns zum Fortgehen fertig, Boris und ich. Wir sind zu fröhlich für diese Krankenzimmer-Atmosphäre. Tania kommt mit. Sie ist fröhlich, weil sie im Begriff ist, zu entrinnen. Boris ist fröhlich, weil der Gott in Moldorf tot ist. Ich bin fröhlich, weil nun ein neuer Akt für uns beginnt.
    Moldorfs Stimme ist ehrerbietig. «Kann ich bei dir bleiben, Sylvester, bis du zu Bett gehst?» Er ist die letzten sechs Tage bei ihm geblieben, hat Medizin gekauft, Besorgungen für Tania gemacht, gesorgt und getröstet, den Eingang gegen mißgünstige Eindringlinge wie Boris und seine Nichtsnutze bewacht. Er ist wie ein Wilder, der entdeckt hat, daß sein Idol während der Nacht verstümmelt wurde. Da sitzt er, zu Füßen seines Abgottes, mit Brotfrucht und Öl und plappert sein Gebet. Seine Stimme ist salbungsvoll. Seine Glieder sind bereits erstarrt.
    Zu Tania spricht er wie zu einer Priesterin, die ihr Gelübde gebrochen hat. «Du mußt dich seiner würdig zeigen. Sylvester ist dein Gott.» Und während Sylvester oben leidet (er hat eine leicht belegte Brust), verschlingen der Priester und die Priesterin ihr Essen. «Du entweihst dich», sagt er, während ihm die Sauce von den Lippen tropft. Er hat die Gabe, gleichzeitig essen und leiden zu können. Während er die gefährlichen Burschen abwehrt, streckt er selber seine dicke, kleine Pfote aus und streichelt Tanias Haar. «Ich fange an, mich in dich zu verlieben. Du bist wie meine Fanny.»
    In anderer Hinsicht war es ein günstiger Tag für Moldorf gewesen. Ein Brief kam aus Amerika. Moe bekommt lauter Einser. Murray lernt Radfahren. Das Grammophon wurde repariert. Man kann an seinem Gesichtsausdruck sehen, daß der Brief noch anderes enthielt außer einem Bericht über Noten und Radfahren. Man kann dessen sicher sein, denn heute nachmittag kaufte er für seine Fanny Schmuck im

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