Wendekreis des Krebses
Präsidenten der Republik und seine Familie gebaut worden. Es tut gut, gelegentlich eine kleine, bescheidene Kirche zu sehen. Paris ist voller pompöser Kathedralen.
Der Pont Alexandre III. Ein großer, windgefegter Platz ist der Brücke vorgelagert. Düstere kahle Bäume, mathematisch in ihren eisernen Schutzgittern angeordnet. Die Schwermut des Invalidendoms strömt aus der Kuppel und überschwemmt die dunklen, an den Platz angrenzenden Straßen. Das Leichenschauhaus der Poesie. Sie haben ihn jetzt, wo sie ihn haben wollten, den großen Krieger, den letzten großen Mann Europas. Er schläft tief in seinem Granitbett. Man braucht nicht zu fürchten, daß er sich in seinem Grab umdreht. Die Pforten sind gut verriegelt, der Sargdeckel fest geschlossen. Schlafe, Napoleon! Nicht deine Ideen wollten sie, sondern deinen Leichnam!
Der Fluß ist noch geschwollen, trübe, von Lichtern gesprenkelt. Ich weiß nicht, was in mir hochwallt beim Anblick dieses dunklen, rasch fließenden Stroms, aber ein großes Glücksgefühl überkommt mich und bestätigt mir den tief in mir schlummernden Wunsch, dieses Land nie zu verlassen. Ich erinnere mich, wie ich unlängst morgens auf meinem Weg zum American Express hier vorüberkam und schon von vornherein wußte, daß für mich keine Post, kein Scheck, kein Telegramm, nichts, rein nichts da sein würde. Ein Lieferwagen der Galeries Lafayette ratterte über die Brücke. Der Regen hatte aufgehört, die Sonne brach durch die seifigen Wolken und tauchte das glänzende Dächergewirr in kaltes Feuer. Ich erinnere mich nun, wie der Fahrer sich hinausbeugte und den Fluß in Richtung Passy entlangblickte. Ein so gesunder, einfacher, beifälliger Blick, als ob er zu sich selber sagte: «Ach, es wird Frühling!» Und weiß Gott, wenn es in Paris Frühling wird, muß der bescheidenste Sterbliche das Gefühl haben, im Paradies zu sein.
Aber es war nicht nur das – es war die Vertrautheit, mit der sein Auge auf dem Bild ruhte. Es war sein Paris. Ein Mensch braucht nicht reich, ja nicht einmal französischer Staatsbürger zu sein, um dies von Paris zu empfinden. Paris ist voll von Armen – der stolzesten und schmutzigsten Bettlerschar, die je auf Erden wandelte, so scheint mir. Und doch machen sie den Eindruck, als fühlten sie sich zu Hause. Das unterscheidet die Pariser Seele von denen aller anderen Großstädte.
Wenn ich an New York denke, habe ich ein ganz anderes Gefühl. New York läßt sogar einen sehr reichen Menschen seine Unwichtigkeit empfinden. New York ist kalt, glitzernd, böse. Die Gebäude beherrschen alles. Eine Art atomarer Raserei haftet dem Getriebe an; je wilder das Tempo, desto mehr nimmt der Geist ab. Eine ständige Gärung, aber sie könnte ebensogut in einem Reagenzglas vor sich gehen. Niemand weiß, was das Ganze soll. Niemand lenkt den Kräftestrom. Ungeheuerlich. Bizarr. Verwirrend. Eine riesige rückläufige Brandung, vollkommen ungeordnet.
Wenn ich an diese Stadt denke, in der ich geboren wurde und groß geworden bin, an dieses Manhattan, das Whitman besungen hat, schießt mir eine blinde, weiße Wut in den Bauch. New York! Die weißen Gefängnisse, die von Maden wimmelnden Gehsteige, die nach Brot anstehenden Menschenschlangen, die wie Paläste aussehenden Opiumhöhlen, die Stromer, die es dort gibt, die Aussätzigen, die organisierten Räuberbanden und vor allem der ennui , die Gleichförmigkeit der Gesichter, Straßen, Beine, Häuser, Wolkenkratzer, Mahlzeiten, Plakate, Berufe, Verbrechen, Liebesaffären … Eine ganze Stadt über einem gähnenden Abgrund des Nichts erbaut. Sinnlos. Vollkommen sinnlos. Und die 42. Straße! Mittelpunkt der Welt nennt man sie. Wo ist denn dann der Arsch der Welt? Du kannst mit ausgestreckter Hand dahergehen, und man wirft dir Asche in die Mütze. Reich oder arm, sie gehen ihres Weges mit zurückgeworfenem Kopf und brechen sich fast den Hals, um emporzublicken zu ihren schönen, weißen Gefängnissen. Sie gehen dahin wie blinde Gänse, und die Suchscheinwerfer bestrahlen ihre leeren Gesichter mit ekstatischen Flecken.
D as Leben, sagte Emerson, besteht aus dem, was der Mensch tagsüber denkt. – Wenn dem so ist, dann ist mein Leben nichts als ein großer Darm. Ich denke nicht nur den ganzen Tag ans Essen, sondern ich träume sogar nachts davon.
Aber ich will nicht nach Amerika zurück, um wieder ins Geschirr und in die Tretmühle zu geraten. Nein, ich ziehe vor, ein armer Mensch in Europa zu sein. Weiß Gott, ich bin arm genug;
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