Wendekreis des Krebses
haben, komme ich wieder, um auf einer Bank zu schlafen. Das Notlicht, das in einem Hof von Tabaksdunst schwimmt, wirft ein trübes Licht auf die untere Ecke des Asbestvorhanges. Ich schließe jede Nacht meine Augen unter einem künstlichen Auge.
Ich habe ein Glasauge und stehe im Hof. Nur die Hälfte von allem ist deutlich wahrnehmbar. Die Steine sind naß und bemoost, und in den Spalten hocken dunkle Kröten. Eine große Tür versperrt den Zugang zum Keller; die Stufen sind schlüpfrig und mit Fledermausdreck beschmutzt. Die Tür ist verquollen und sackt, die Scharniere fallen fast herunter, aber es ist ein tadellos erhaltenes Emailleschild angebracht, darauf ist zu lesen: ‹Bitte die Tür schließen!› Warum die Tür schließen? Ich komme nicht dahinter. Ich schaue erneut nach dem Schild, aber es ist weg. Eine Buntglasscheibe ist an seiner Stelle. Ich nehme mein Kunstauge heraus, spucke darauf und poliere es mit meinem Taschentuch. Eine Frau sitzt auf einem Podium über einem riesigen geschnitzten Pult. Sie hat eine Schlange um ihren Hals gelegt. Im ganzen Zimmer sind ringsum Bücher und seltsame, in farbigen Rundgefäßen schwimmende Fische. An der Wand hängen Land- und Seekarten, Karten von Paris vor der Pest, Karten von der Antiken Welt, von Knossos und Karthago, von Karthago vor und nach der Zerstörung. In einer Ecke des Zimmers sehe ich eine eiserne Bettstatt, und auf ihr liegt ein Leichnam. Die Frau steht gelangweilt auf, hebt den Leichnam vom Bett auf und wirft ihn zerstreut aus dem Fenster. Sie kehrt an das große, geschnitzte Pult zurück, nimmt einen Goldfisch aus dem Glas und verschlingt ihn. Langsam beginnt das Zimmer sich zu drehen, und einer nach dem anderen gleiten die Erdteile ins Meer. Nur die Frau bleibt übrig, aber ihr Körper ist eine geographische Masse. Ich beuge mich aus dem Fenster, und der Eiffelturm versprüht Champagner; er besteht ganz aus Zahlen und ist in schwarze Spitze gehüllt. Die Abzugskanäle gurgeln wild. Überall gibt es nur abscheuliche, geometrisch angeordnete Dächer.
Ich bin aus der Welt geschleudert worden wie eine Patrone. Ein dichter Nebel hat sich herabgesenkt, die Erde ist mit gefrorenem Fett verschmiert. Ich spüre, wie die Stadt pulsiert, als wäre sie ein eben aus einem warmen Leib entferntes Herz. Die Fenster meines Hotels eitern, in der Luft ist ein stickiger, beißender Gestank wie von brennenden Chemikalien. Bei einem Blick auf die Seine sehe ich Schmutz und Verzweiflung, ertrinkende Straßenlampen, erstickende Männer und Frauen, die Brücken bedeckt mit Häusern, Schlachthäusern der Liebe. Ein Mann steht an eine Mauer gelehnt, eine Ziehharmonika vor seinen Bauch geschnallt. Seine Hände sind an den Gelenken abgeschnitten, aber die Ziehharmonika windet sich zwischen seinen Stümpfen wie ein Sack voll Schlangen. Das Weltall ist zusammengeschrumpft. Es ist nur noch einen Häuserblock lang, und es gibt keine Sterne, keine Bäume, keine Flüsse. Die hier wohnenden Menschen sind tot; sie machen Stühle, auf denen andere Menschen in ihren Träumen sitzen. In der Mitte der Straße steht ein Rad, und an der Achse des Rades ist ein Galgen angebracht. Menschen, die bereits tot sind, versuchen wie toll auf den Galgen zu klettern, aber das Rad dreht sich zu rasch …
Etwas mußte kommen, um mich wieder mit mir in Einklang zu bringen. Gestern abend entdeckte ich es: Papini . Es ist mir gleich, ob er ein Chauvinist, ein kleiner Christusableger oder ein kurzsichtiger Pedant ist. Für einen Mann, der Schiffbruch erlitten hat, ist er großartig.
Die Bücher, die er gelesen hat – als Achtzehnjähriger! Nicht nur Homer, Dante, Goethe, nicht nur Aristoteles, Platon, Epiktet, nicht nur Rabelais, Cervantes, Swift, nicht nur Walt Whitman, Edgar Allan Poe, Baudelaire, Villon, Carducci, Manzoni, Lope de Vega, nicht nur Nietzsche, Schopenhauer, Kant, Hegel, Darwin, Spencer, Huxley – nicht nur diese, sondern auch die dazwischenliegende zweite Garnitur. Das auf Seite 18. Alors , auf Seite 232, bricht er zusammen und beichtet. Ich weiß nichts, gesteht er. Ich kenne die Titel, ich habe Bibliographien zusammengetragen, kritische Essays geschrieben, habe verleumdet und gelästert, ich kann fünf Minuten oder fünf Tage reden, aber dann bin ich fertig, ausgequetscht.
Hierauf folgt: «Jedermann will mich sehen. Jedermann besteht darauf, mit mir zu sprechen. Die Leute belästigen mich und andere mit Erkundigungen danach, was ich tue. Wie geht es mir? Bin ich wieder ganz gesund?
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