Wendekreis des Krebses
ich auf der Matratze im Flur liege, erstickt mich beinahe der Geruch des Insektenpulvers. Ein scharfer, beißender Geruch, der durch jede Pore meines Körpers zu dringen scheint. Das Essen fängt an, mir wieder hochzukommen – die Hafergrütze, die Pilze, der Speck, die Bratäpfel. Ich sehe den kleinen Bandwurm neben dem Obst liegen und alle die Wurmarten, die Serge aufs Tischtuch zeichnete, um zu erklären, was dem Hund fehlte. Ich sehe das leere Parterre der Folies-Bergère, und in jeder Ritze sind Kakerlaken, Läuse und Wanzen. Ich sehe Menschen sich verzweifelt kratzen, kratzen und kratzen, bis Blut kommt. Ich sehe die Würmer über die Bühne krabbeln wie eine Armee roter Ameisen, die alles auffressen, was ihnen in die Quere kommt. Ich sehe die Chorgirls ihre Gazetuniken wegwerfen und nackt durch die Gänge laufen. Ich sehe auch die Zuschauer im Parterre ihre Kleider abstreifen und einander kratzen wie die Affen.
Ich versuche, mich zu beruhigen. Schließlich habe ich hier ein Heim gefunden, und jeden Tag erwartet mich eine Mahlzeit. Und Serge ist ein Goldstück, darüber gibt’s keinen Zweifel. Aber ich kann nicht schlafen. Es ist, als lege man sich in einem Leichenschauhaus schlafen. Die Matratze ist mit Einbalsamierungsflüssigkeit durchtränkt. Es ist ein Leichenschauhaus für Läuse, Wanzen, Kakerlaken und Bandwürmer. Ich halte es nicht aus. Ich will es nicht aushalten. Schließlich bin ich ein Mensch, keine Laus.
Am Morgen warte ich, bis Serge den Lastwagen belädt. Ich bitte ihn, mich mit nach Paris zu nehmen. Ich habe nicht das Herz, ihm zu sagen, daß ich fortgehe. Ich lasse den Rucksack mit den paar Sachen, die ich noch habe, zurück. Als wir zur Place Péreire kommen, springe ich ab. Kein besonderer Grund, warum ich gerade hier aussteige. Kein besonderer Grund für irgendwas. Ich bin frei – das ist die Hauptsache … Leicht wie ein Vogel flitze ich von einem Viertel ins andere. Es ist, als sei ich aus dem Gefängnis entlassen worden. Ich sehe die Welt mit neuen Augen an. Alles interessiert mich lebhaft. Sogar Kleinigkeiten. In der Rue du Faubourg-Poissonnière bleibe ich vor dem Schaufenster eines Institutes für Körperkultur stehen. Fotografien zeigen Vertreter des männlichen Geschlechts ‹vor- und nachher›. Alles Franzmänner. Manche von ihnen sind nackt bis auf einen Zwicker oder einen Bart. Ich kann nicht verstehen, wie diese seltsamen Vögel auf Barren oder Hanteln verfallen konnten. Ein Franzmann sollte ein Bäuchlein haben wie der Baron de Charlus. Er sollte einen Bart und einen Zwicker tragen, aber sich nie nackt fotografieren lassen. Er sollte funkelnde Lackschuhe tragen, und in der äußeren Brusttasche seines Sakkos sollte ein weißes Taschentuch stecken, das ungefähr dreiviertel Zoll aus dem Schlitz herausragt. Wenn möglich, sollte er ein rotes Bändchen im Knopfloch haben. Er sollte im Pyjama zu Bett gehen.
Als ich mich gegen Abend der Place Clichy nähere, komme ich an der kleinen Hure mit dem Holzbein vorbei, die tagein, tagaus gegenüber vom Gaumont-Palace steht. Sie sieht keinen Tag älter aus als achtzehn. Hat wohl ihre regelmäßigen Kunden, nehme ich an. Nach Mitternacht steht sie da in ihrem schwarzen Aufputz, wie angewurzelt. Hinter ihr die kleine Durchgangsgasse glüht in hellem Lichtschein, wie ein Inferno. Wie ich nun leichten Herzens an ihr vorüberkomme, erinnert sie mich irgendwie an eine festgebundene Gans, eine Gans mit einer geschwollenen Leber, auf daß die Welt ihre pâté de foie gras bekomme. Es muß merkwürdig sein, dieses Holzbein mit ins Bett zu nehmen. Man stellt sich alles mögliche vor – Splitter usw. Nun, jeder nach seinem Geschmack!
Wie ich die Rue des Dames hinuntergehe, renne ich in Peckover hinein – auch ein armer Teufel, der an der Zeitung arbeitet. Er beklagt sich darüber, daß er nur drei oder vier Stunden Nachtruhe hat – er muß um acht Uhr morgens aufstehen, um seiner Beschäftigung bei einem Zahnarzt nachzugehen. Er tut es nicht des Geldes wegen, erklärt er – sondern um sich ein Gebiß machen lassen zu können. «Es ist hart, Korrekturen zu lesen, wenn man vor Schlaf umfällt», sagt er. «Meine Frau meint, ich hätte dadurch eine sichere Existenz. Was würdest du anfangen, wenn du deine Stellung verlörest? sagt sie.» Aber Peckover gibt keinen Pfifferling für seine Stellung, sie ermöglicht ihm nicht einmal, etwas Geld für sich zu erübrigen. Er muß seine Zigarettenstummel aufbewahren und sie als Pfeifentabak rauchen.
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