Wendekreis des Krebses
Mache ich noch immer meine ausgedehnten Spaziergänge? Arbeite ich? Habe ich mein Buch beendet? Werde ich bald ein neues beginnen?
Ein magerer Affe von einem Deutschen möchte gerne, daß ich seine Werke übersetze. Eine wildäugige Russin möchte, daß ich für sie mein Leben niederschreibe. Eine Amerikanerin möchte die allerletzten Neuigkeiten über mich. Ein Amerikaner will seinen Wagen schicken, um mich zum Essen abzuholen – nur zu einer intimen, vertraulichen Plauderei, versteht sich. Ein alter Mitschüler und Kamerad von mir aus der Zeit vor zehn Jahren möchte, daß ich ihm alles, was ich schreibe, augenblicklich vorlese. Ein befreundeter Maler erwartet von mir, daß ich ihm stundenlang Modell sitze. Ein Journalist möchte meine derzeitige Adresse. Ein Bekannter, ein Mystiker, erkundigt sich nach meinem Seelenzustand; ein anderer, sachlicherer, nach dem Stand meiner Brieftasche. Der Vorsitzende meines Clubs fragt an, ob ich nicht vor den Jungens eine Rede halten will! Eine geistig interessierte Dame hofft, daß ich so oft wie möglich zu ihr zum Tee komme. Sie will meine Meinung über Jesus Christus wissen und was ich von dem neuen Medium halte …
Großer Gott, was ist aus mir geworden?! Welches Recht habt ihr Menschen, mein Leben in Unordnung zu bringen, meine Zeit zu stehlen, in meine Seele einzudringen, euch von meinen Gedanken zu nähren, mich zu eurem Gesellschafter, Vertrauten und Auskunftsbüro zu machen? Wofür haltet ihr mich? Bin ich ein bezahlter Unterhaltungskünstler, jeden Abend nur dazu da, vor euren dummen Fratzen eine geistige Farce aufzuführen? Bin ich ein Sklave, dazu gekauft und dafür bezahlt, vor euch Nichtstuern auf dem Bauch zu kriechen und euch mein ganzes Tun und Wissen zu Füßen zu legen? Bin ich eine Dirne in einem Bordell, die auf den Wunsch des erstbesten Mannes, der in seinem Schneideranzug daherkommt, ihren Rock hochheben oder ihr Hemd ausziehen muß?
Ich bin ein Mensch, der ein heroisches Leben führen und die Welt in seinen Augen etwas erträglicher machen möchte. Wenn ich in einem Augenblick der Schwäche, der Entspannung, der Not Dampf ablasse, ein bißchen zu Worten abgekühlte rotglühende Wut – einen in Bildern verpackten leidenschaftlichen Traum – nun schön, dann nehmt es hin oder lehnt es ab – aber laßt mich in Ruhe!
Ich bin ein freier Mensch – und brauche meine Freiheit.
Ich muß allein sein. Ich muß über meine Schande und meine Verzweiflung in Zurückgezogenheit nachgrübeln. Ich brauche den Sonnenschein und das Straßenpflaster ohne Begleiter, ohne Unterhaltung, von Angesicht zu Angesicht mit mir selber, nur die Musik meines Herzens zum Weggenossen. Was wollt ihr von mir? Wenn ich etwas zu sagen habe, sage ich es in gedruckten Buchstaben. Wenn ich etwas zu geben habe, gebe ich es. Eure aufdringliche Neugier, eure Schmeicheleien demütigen mich! Euer Tee vergiftet mich! Ich schulde niemandem etwas. Ich wäre nur Gott verantwortlich – wenn ER existierte.»
Es scheint mir, daß Papini um Haaresbreite daneben trifft, wenn er von dem Bedürfnis, allein zu sein, spricht. Es ist nicht schwierig, allein zu sein, wenn man arm und ein Versager ist. Ein Künstler ist immer allein – wenn er wirklich ein Künstler ist. Nein, was der Künstler braucht, ist Einsamkeit .
Der Künstler – so bezeichne ich mich selbst. Sei’s drum. Ein schöner Schlummer heute nachmittag, der Samt zwischen meine Rückenwirbel gebreitet hat. Genug Ideen für drei Tage hervorgebracht. Bis zum Rande geladen mit Energie, und weiß nichts damit anzufangen. Beschließe, einen Spaziergang zu machen. Auf der Straße überlege ich mir’s anders. Beschließe, ins Kino zu gehen. Kann nicht ins Kino – es fehlen mir ein paar Sous. Also ein Spaziergang. Bei jedem Kino bleibe ich stehen und sehe mir die Plakate, dann die Preise der Plätze an. Recht billig, diese Opiumhöhlen, aber ich habe ein paar Sous zu wenig. Wäre es nicht so spät, so könnte ich zurückgehen und das Pfand für eine leere Flasche einlösen.
Als ich zur Rue Amélie komme, habe ich die Kinos ganz vergessen. Die Rue Amélie ist eine meiner Lieblingsstraßen. Sie ist eine von jenen Straßen, die die Stadtverwaltung glücklicherweise zu pflastern vergessen hat. Riesige Katzenköpfe reichen holperig von einer Straßenseite zur anderen. Nur eine lange und enge Häuserzeile. Das Hôtel Pretty liegt in dieser Straße. Auch eine kleine Kirche gibt es in der Rue Amélie. Sie sieht aus, als wäre sie speziell für den
Weitere Kostenlose Bücher