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Wendekreis des Krebses

Wendekreis des Krebses

Titel: Wendekreis des Krebses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Miller
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ausleert.
    Seit wir die Treppe hinaufgestiegen sind, hat Van Norden geschwiegen. Aber seine Blicke sind beredt. Als er die Tür von 57 öffnet, habe ich einen flüchtigen Augenblick das Gefühl, wahnsinnig zu werden. Ein riesiger, mit grünem Flor verhangener Spiegel hängt in einer Neigung von 45 Grad gerade dem Eingang gegenüber über einem mit Büchern gefüllten Kinderwagen. Van Norden verzieht nicht einmal das Gesicht zu einem Lächeln; statt dessen geht er lässig zu dem Kinderwagen hin, entnimmt ihm ein Buch und beginnt darin zu blättern, ungefähr so, wie jemand, der in eine Öffentliche Bibliothek kommt und gedankenlos an das nächstbeste Regal herantritt. Und vielleicht wäre mir das nicht so lächerlich vorgekommen, wenn ich nicht gleichzeitig zwei in der Ecke ruhende Lenkstangen erspäht hätte. Sie sehen so friedlich und zufrieden aus, als hätten sie seit Jahren dort geschlummert, daß es mir plötzlich vorkommt, als hätten wir unberechenbar lange Zeit in genau dieser Haltung in diesem Zimmer gestanden, als wäre es eine Pose, die wir in einem Traum angenommen hätten, aus dem wir nie erwachten, einem Traum, den die geringste Bewegung, auch nur ein Augenblinzeln, zunichte machen würde. Aber noch erstaunlicher ist die plötzlich auftauchende Erinnerung an einen tatsächlich gehabten Traum, den ich erst unlängst nachts hatte, einen Traum, in dem ich Van Norden in genau so einer Ecke sah, wie sie jetzt die Lenkstangen einnehmen, nur daß statt der Lenkstangen dort eine Frau mit hochgezogenen Beinen kauerte. Ich sehe ihn über der Frau mit dem entschlossenen, gierigen Augenausdruck dastehen, den er bekommt, wenn er etwas heftig begehrt. Die Straße, auf der das vor sich geht, ist verschwommen – nur die von den zwei Wänden gebildete Ecke und die kauernde Frauengestalt sind deutlich. Ich sehe, wie er in seiner raschen, animalischen Art auf sie losgeht, unbekümmert um alles, was um ihn vorgeht, nur entschlossen, seinen Willen zu haben. Und ein Ausdruck in seinem Auge, als wollte er sagten: ‹Du kannst mich hinterher umbringen, aber laß mich ihn hineinkriegen … ich muß ihn hineinkriegen!› Und da ist er, über sie gebeugt, ihre Köpfe schlagen gegen die Wand. Er hat eine so riesige Erektion, daß es einfach unmöglich ist, ihn hineinzubekommen. Plötzlich richtet er sich auf, mit jener angewiderten Miene, die er so gut aufzusetzen versteht, und ordnet seine Kleidung. Er ist im Begriff, wegzugehen, als er plötzlich bemerkt, daß sein Penis auf dem Gehsteig liegt. Er ist etwa von der Größe eines abgesägten Besenstiels. Er hebt ihn lässig auf und schiebt ihn unter den Arm. Als er fortgeht, sehe ich zwei große Knollen, wie Tulpenzwiebeln, am Ende des Besenstiels baumeln, und ich kann ihn vor sich hinmurmeln hören: ‹Blumentöpfe … Blumentöpfe.›
    Der garçon kommt schweratmend und schwitzend herein. Van Norden sieht ihn verständnislos an. Jetzt kommt die Madame und geht geradewegs auf Van Norden zu, nimmt ihm das Buch aus der Hand, wirft es in den Kinderwagen und schiebt ohne ein Wort den Kinderwagen auf den Flur.
    «Dies ist eine Wanzenbude», sagt Van Norden mit betrübtem Lächeln. Es ist ein so zaghaftes, unbeschreibliches Lächeln, daß für einen Augenblick das Traumgefühl wiederkehrt und es mir scheint, als stünden wir am Ende eines langen Ganges, an dessen anderem Ende ein gewellter Spiegel angebracht ist. Und diesen Gang entlang taumelt Van Norden, schwenkt seine Betrübnis wie eine schäbige Laterne, taumelt hinein und heraus, je nachdem wie da und dort eine Tür sich öffnet und eine Hand ihn hineinzieht oder ein Huf ihn hinausstößt. Und je weiter er geht, desto kummervoller wird seine Betrübnis. Er trägt sie wie eine Laterne, wie sie Radfahrer nachts zwischen die Zähne nehmen, wenn das Pflaster naß und schlüpfrig ist. Hinein und heraus aus den schmutzigen Zimmern wandert er, und wenn er sich setzt, bricht der Stuhl zusammen; wenn er seinen Koffer aufmacht, ist nur eine Zahnbürste drin. In jedem Zimmer ist ein Spiegel, vor dem er aufmerksam steht und seinen Zorn zerkaut, und von dem ständigen Kauen, dem Murmeln und Murren und dem Brummen und Fluchen haben sich seine Kinnbacken ausgerenkt und sind schlimm heruntergesackt, und wenn er seinen Bart reibt, bröckeln Stücke von seinem Kiefer ab, und er ist so angewidert von sich selber, daß er auf seinen eigenen Kiefer stampft, ihn mit seinen schweren Absätzen zertrampelt.
    Inzwischen ist das Gepäck hereingeschleppt

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