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Wendekreis des Krebses

Wendekreis des Krebses

Titel: Wendekreis des Krebses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Miller
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rasiert.
    An seinem freien Abend richtet es Van Norden gewöhnlich so ein, daß er wenigstens fünfzig Francs in der Tasche hat, ein Umstand, der ihn nicht hindert, bei jeder sich bietenden Gelegenheit einen Pump zu versuchen. «Hallo», sagt er, «gib mir zwanzig Francs, ich brauch sie.» Er bringt es fertig, sich dabei den Anschein zu geben, als wäre er in höchster Not. Und wenn er eine Ablehnung erfährt, wird er beleidigend. «Du könntest wenigstens ein Glas spendieren.» Und wenn er sein Glas bekommt, sagt er freundlicher: «Hör zu, dann gib mir fünf Francs … gib mir zwei …» Wir gehen von Bar zu Bar auf der Suche nach ein wenig Unterhaltung und sammeln dabei immer ein paar Francs ein. Im Coupole stoßen wir auf einen von den Zeitungsleuten; er ist betrunken. Einen von der oberen Abteilung. In der Redaktion ist gerade ein Unglück passiert, berichtet er uns. Einer der Korrektoren ist den Aufzugschacht hinuntergestürzt. Keine Aussicht, daß er am Leben bleibt.
    Zuerst ist Van Norden bestürzt, tief bestürzt. Als er aber hört, daß es Peckover, der Engländer war, atmet er auf. «Der arme Teufel», meint er, «besser für ihn, daß er tot ist. Er bekam gerade dieser Tage sein Gebiß …»
    Die Erwähnung des Gebisses rührt den Mann von der oberen Abteilung zu Tränen. Er berichtet sabbernd einen mit dem Unglück zusammenhängenden kleinen Vorfall. Er ist davon aus der Fassung gebracht, mehr aus der Fassung gebracht als durch den Unglücksfall selber. Es scheint, daß Peckover, als er unten im Schacht aufschlug, zum Bewußtsein kam, ehe ihn jemand erreichen konnte. Obwohl seine Beine gebrochen und seine Rippen eingedrückt waren, war es ihm gelungen, sich auf alle viere aufzurichten und nach seinen falschen Zähnen herumzutasten. Auf dem Transport schrie er im Delirium nach den falschen Zähnen, die er verloren hatte. Der Vorfall war gleichzeitig ergreifend und lächerlich. Der Kerl von der oberen Abteilung wußte nicht recht, ob er lachen oder weinen sollte, als er ihn erzählte. Es war ein gefährlicher Augenblick, denn bei einem schwer Betrunkenen genügt eine falsche Bewegung, und er schlägt einem eine Flasche über den Schädel. Er war mit Peckover nie besonders befreundet gewesen – in der Tat hatte er fast nie den Fuß in die Korrekturabteilung gesetzt: es gab so etwas wie eine unsichtbare Wand zwischen den Leuten von oben und denen von unten. Aber jetzt, da ihn der Atem des Todes gestreift hatte, wollte er seine Kameradschaftlichkeit an den Tag legen. Er wollte nach Möglichkeit weinen, um zu zeigen, daß er ein guter Kerl sei. Und Joe und ich, die wir Peckover gut kannten und wußten, daß er nicht einen Pfifferling, ja nicht einmal ein paar Tränen wert war, fühlten uns von dieser betrunkenen Rührseligkeit abgestoßen. Wir wollten ihm das auch sagen, aber bei einem solchen Kerl kann man es sich nicht leisten, ehrlich zu sein. Man muß einen Kranz kaufen, zur Beerdigung gehen und so tun, als sei man unglücklich. Und man muß ihm auch zu dem schönen Nachruf gratulieren, den er verfaßt hat. Er wird seinen schönen kleinen Nachruf monatelang mit sich herumtragen und sich über den Schellenkönig dafür loben, wie er mit der Situation fertig wurde. Wir fühlten all das, Joe und ich, ohne ein Wort zueinander zu sagen. Wir standen einfach da und hörten in mörderisch stillschweigender Verachtung zu. Und sobald wir uns verdrücken konnten, taten wir es. Wir ließen ihn dort an seiner Bar stehen, wie er über seinem Glas Pernod vor sich hin schluchzte.
    Sobald wir außer Sicht waren, brachen wir in nervöses Lachen aus. Die falschen Zähne! Was wir auch über den armen Teufel sagten – und wir sagten auch Gutes über ihn – wir kamen immer wieder auf die falschen Zähne zurück. Es gibt Menschen auf dieser Welt, die so groteske Figuren abgeben, daß sogar der Tod sie noch lächerlicher macht. Und je schrecklicher der Tod, desto lächerlicher scheinen sie. Es hat keinen Zweck, ihr Ende mit ein wenig Würde verbrämen zu wollen – man muß ein Lügner und ein Scheinheiliger sein, um in ihrem Verscheiden etwas Tragisches zu entdecken. Und da wir keine verlogene Miene zur Schau tragen mußten, konnten wir nach Herzenslust über den Vorfall lachen. Wir lachten die ganze Nacht darüber, und dazwischen machten wir unserer Wut und unserem Abscheu vor den Kerlen von oben Luft, diese Specknacken, die sich zweifellos selbst vorzumachen versuchten, Peckover sei ein feiner Kerl gewesen und sein Tod sei

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