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Wendekreis des Krebses

Wendekreis des Krebses

Titel: Wendekreis des Krebses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Miller
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zu fünfzig Centimes. Ein Korrektor steht gewöhnlich nicht vor Mittag oder ein wenig später auf. Es ist zweckmäßig, ein Hotel in der Nähe eines Kinos zu wählen, denn wenn man eine Neigung zum Verschlafen hat, wird man rechtzeitig durch das Glockenzeichen für die Frühvorstellung geweckt. Oder wenn man kein Hotel in der Nähe eines Kinos finden kann, wähle man eines in der Nähe eines Friedhofs, es kommt aufs gleiche heraus. Vor allem, nie verzweifeln. Il ne faut jamais désesperer .
    Das ist’s, was ich Carl und Van Norden jede Nacht einzuhämmern versuche. Eine Welt ohne Hoffnung, aber keine Verzweiflung. Es ist, als sei ich zu einer neuen Religion bekehrt worden, als hielte ich jede Nacht für Unsere Liebe Frau zum Trost einen Dankgottesdienst ab. Ich kann mir nicht vorstellen, was damit gewonnen wäre, wenn man mich zum Herausgeber der Zeitung oder sogar zum Präsidenten der Vereinigten Staaten machen würde. Ich bin in einer Sackgasse, und sie ist gemütlich und bequem. Mit einem Zeitungsblatt in der Hand lausche ich der Musik um mich, dem Stimmengesumm und -gebrumm, dem Klappern der Setzmaschinen, das klingt, als würden tausend silberne Armreifen durch die Wringmaschine getrieben; dann und wann huscht eine Ratte an unseren Füßen vorbei, oder eine Kakerlake klettert, gewandt und sacht ihre zierlichen Beine setzend, die Wand vor uns herunter. Die Tagesereignisse werden einem ruhig, unauffällig unterbreitet, mit einer gelegentlichen Randbemerkung, um die Gegenwart einer menschlichen Hand, eines Ichs, eines Anflugs von Eitelkeit anzudeuten. Die Prozession zieht ernst vorüber wie ein durchs Friedhofstor einschwenkender Trauerzug. Das Papier liegt so dick unter dem Schreibtisch, daß es fast wie ein weißer Teppich wirkt. Unter Van Nordens Schreibtisch ist es mit braunem Tabaksaft besudelt. Gegen elf Uhr kommt der Erdnußverkäufer, ein halbidiotischer Armenier, der gleichfalls mit seinem Los im Leben zufrieden ist.
    Dann und wann bekomme ich ein Telegramm von Mona, sie käme mit dem nächsten Schiff. ‹Brief folgt›, heißt es immer. So geht es neun Monate, aber nie sehe ich ihren Namen auf der Passagierliste ankommender Schiffe, ebensowenig bringt mir der garçon auf silbernem Tablett einen Brief. Ich erwarte in dieser Hinsicht auch nichts mehr. Wenn sie jemals ankommt, kann sie mich unten, gleich hinter der Toilette, finden. Sie wird mir vermutlich sofort sagen, das sei unhygienisch. Das ist das erste, was einer Amerikanerin an Europa auffällt – daß es unhygienisch ist. Unmöglich für sie, sich ein Paradies ohne moderne Installation vorzustellen. Wenn sie eine Bettwanze finden, wollen sie sofort einen Brief an die Handelskammer schreiben. Wie soll ich ihr je erklären, daß ich hier zufrieden bin? Sie wird sagen, ich sei aus der Art geschlagen. Ich kenne ihre Leier, von Anfang bis Ende. Sie wird ein Atelier mit Garten suchen wollen – und selbstverständlich mit Bad. Sie will auf eine romantische Art und Weise arm sein. Ich kenne sie. Aber diesmal bin ich auf sie vorbereitet.
    Trotzdem gibt es Tage, an denen die Sonne scheint und ich von dem ausgetretenen Pfad abweiche und voll Sehnsucht an sie denke. Hin und wieder denke ich trotz meiner ingrimmigen Zufriedenheit an ein anderes Leben, frage mich, ob es etwas andern würde, wenn ich ein junges, rastloses Wesen an meiner Seite hätte. Das Dumme ist, ich kann mich kaum mehr erinnern, wie sie aussieht oder gar wie es ist, sie in den Armen zu halten. Alles, was zur Vergangenheit gehört, scheint ins Meer gestürzt; ich habe Erinnerungen, aber die Bilder haben ihre Lebendigkeit verloren, sie scheinen tot und zusammenhanglos, wie im Moorboden versunkene, vom Alter geschrumpfte Mumien. Wenn ich mir mein Leben in New York ins Gedächtnis zurückzurufen versuche, fallen mir ein paar gespenstische, von Grünspan überzogene Bruchstücke ein. Es ist, als habe meine eigene Existenz irgendwo aufgehört, nur genau wo , kann ich nicht herausfinden. Ich bin kein Amerikaner mehr, auch kein New Yorker, und sogar noch weniger ein Europäer oder ein Pariser. Ich habe keine Untertanenpflichten mehr, keine Verantwortlichkeiten, keinen Haß, keine Sorgen, keine Vorurteile, keine Leidenschaft. Ich bin weder dafür noch dagegen. Ich bin neutral.
    Wenn wir drei nachts nach Hause gehen, kommt es nach den ersten Unmutsausbrüchen oft vor, daß wir über den Stand der Dinge mit eben jener Begeisterung reden, die nur diejenigen aufbringen können, die keine aktive Rolle im

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