Wendekreis des Krebses
Man stelle sich einen Zustand völliger Immunität vor, ein geschütztes Dasein, ein vollkommen gesichertes Leben inmitten von Giftbazillen. Nichts berührt mich, weder Erdbeben noch Explosionen, noch Aufstände, noch Hungersnöte, noch Zusammenstöße, noch Kriege oder Revolutionen. Ich bin gegen jede Krankeit, jedes Unglück, jeden Kummer und jedes Elend geimpft. Es ist der Gipfel eines Lebens in Unerschütterlichkeit. Ich sitze in meinem kleinen Verschlag und lasse alle Gifte, die die Welt jeden Tag erzeugt, durch meine Hände gehen. Nicht einmal ein Fingernagel wird dabei schmutzig. Ich bin völlig immun. Ich bin sogar besser dran als ein Laborant, denn hier gibt es keine schlechten Gerüche, nur den nach geschmolzenem Blei. Die Welt kann in die Luft fliegen – ich werde trotzdem hier sitzen, um ein Komma oder ein Semikolon einzusetzen. Ich bekomme vielleicht sogar eine kleine Überstunden-Zulage, denn ein solches Ereignis ist dazu angetan, ein Extrablatt zu rechtfertigen. Wenn die Welt in die Luft fliegt und das Extrablatt in Druck gegangen ist, werden die Korrektoren ruhig alle Kommas, Semikolons, Bindestriche, Sternchen, runde und eckige Klammern, Punkte, Ausrufezeichen usw. einsammeln und sie in eine kleine Schachtel über dem Redakteursessel legen. Comme ça tout est régle .
Keiner meiner Kollegen scheint zu verstehen, warum ich so zufrieden aussehe. Sie nörgeln die ganze Zeit, haben ihren Ehrgeiz, wollen ihren Stolz und ihren Spleen zeigen. Ein guter Korrektor hat keinen Ehrgeiz, keinen Stolz und keinen Spleen. Ein guter Korrektor ist ein wenig wie Gott der Allmächtige: er ist in – aber nicht von dieser Welt. Er ist nur für den Sonntag. Sonntag ist sein freier Abend. An den Sonntagen steigt er von seinem Piedestal herunter und kehrt den Gläubigen den Hintern zu. Einmal in der Woche lauscht er dem ganzen privaten Kummer und Elend dieser Welt. Das genügt ihm für den Rest der Woche. Die übrige Woche bleibt er in gefrorenen Wintermooren, ein Vollkommener, ein unfehlbarer Vollkommener, nur durch eine Impfnarbe von der riesigen Leere unterschieden.
Das größte Unglück für einen Korrektor ist die Angst, seine Stellung zu verlieren. Wenn wir in den Pausen zusammenkommen, ist die Frage, die uns einen Schauder über den Rücken rieseln läßt: Was tust du, wenn du deine Stellung verlierst? Für den Mann in der Pferdekoppel, dessen Pflicht darin besteht, den Mist auszukehren, ist der größte Schrecken die Möglichkeit einer Welt ohne Pferde. Ihm zu sagen, es sei scheußlich, sein Leben damit zu verbringen, dampfende Pferdeäpfel zusammenzuschaufeln, ist ein Stück Dummheit. Ein Mensch kann Scheiße lieben lernen, wenn sein Lebensunterhalt davon abhängt, wenn sein Glück dabei auf dem Spiel steht.
Dieses Leben, das – wenn ich noch ein Mensch mit Stolz, Ehre, Ehrgeiz und so fort wäre – wie die letzte Stufe der Erniedrigung scheinen würde, begrüße ich jetzt, wie ein Schwerkranker den Tod begrüßt. Es ist eine negative Wirklichkeit, ganz wie der Tod – eine Art Himmel ohne die Qual und den Schrecken des Sterbens. In dieser chthonischen Welt sind Rechtschreibung und Interpunktion das einzig Wichtige. Es kommt nicht darauf an, welcher Art das Unglück, sondern nur, ob es richtig geschrieben ist. Alles hat gleiche Bedeutung, ob es sich nun um die letzte Mode für Abendkleider, ein neues Schlachtschiff, eine Seuche, einen hochexplosiven Sprengstoff, eine astronomische Entdeckung, einen Bankraub, ein Eisenbahnunglück, einen Viehmarkt, eine Aufnahme eins zu hundert, eine Hinrichtung, einen Überfall, einen Mord oder sonstwas handelt. Nichts entgeht dem Auge des Korrektors, aber nichts durchdringt auch seine kugelsichere Weste. An den Hindu Agha Mir schreibt Madame Scheer (geborene Miss Esteve) die Bestätigung, daß sie mit seiner Leistung sehr zufrieden ist. «Ich heiratete am 6. Juni und danke Ihnen. Wir sind sehr glücklich, und ich hoffe, daß es dank Ihrer Gabe immer so bleibt. Ich überweise Ihnen als Gegenleistung telegrafisch die Summe von …» Der Hindu Agha Mir sagt Ihnen die Zukunft voraus und liest in einer genauen und unerklärlichen Weise alle Ihre Gedanken. Er erteilt Ihnen Rat, hilft Ihnen, sich von allen Ihren wie immer gearteten Sorgen und Schwierigkeiten zu befreien, usw. Kommen Sie oder schreiben Sie an Avenue MacMahon 20, Paris .
Er liest in wunderbarer Weise alle Ihre Gedanken! Ich nehme an, daß das heißt, ohne Ausnahme, von den trivialsten bis zu den schamlosesten
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