Wendekreis des Krebses
jetzt böse, weil ich ihn am Hinterteil kitzle.
«Mein Gott, Joe, gib es auf! Du bringst das arme Mädchen um.»
«Laß mich in Frieden», grunzt er. «Ich hatte ihn jetzt fast drin.»
Die Stellung und die entschlossene Art, in der er das hervorstößt, bringt mir plötzlich zum zweitenmal die Erinnerung an meinen Traum in den Sinn. Nur scheint es jetzt, als sei dieser Besenstiel, den er beim Fortgehen so lässig unter den Arm geschoben hatte, für immer dahin. Es ist wie die Fortsetzung des Traumes – der gleiche Van Norden, aber ohne die Hauptsache. Er ist wie ein aus dem Kriege zurückgekommener Held, der als armer, verstümmelter Hund die Wirklichkeit seiner Träume durchlebt. Wo immer er sich hinsetzt, bricht der Stuhl zusammen. Durch welche Tür er auch eintritt, das Zimmer ist leer. Was er auch in den Mund steckt, es hinterläßt einen üblen Geschmack. Alles ist ganz, wie es vorher war; die Elemente sind unverändert, der Traum nicht anders als die Wirklichkeit. Nur wurde zwischen der Zeit, als er zu Bett ging, und der Zeit, als er erwachte, sein Körper gestohlen. Er ist wie eine Maschine, die jeden Tag Millionen und Milliarden von Zeitungen hinausschleudert, und die Titelseite strotzt von Katastrophen, Unruhen, Morden, Explosionen und Zusammenstößen, aber ihn ficht nichts an. Wenn nicht jemand den Hebel abstellt, wird er nie wissen, was Sterben bedeutet. Man kann nicht sterben, wenn der eigene Körper gestohlen worden ist. Man kann sich über eine Möse hermachen und es bis zur Ewigkeit wie ein Ziegenbock weitertreiben; man kann in den Schützengraben gehen und in Stücke gerissen werden. Nichts bringt diesen Funken von Leidenschaft hervor, wenn nicht eine menschliche Hand hinzukommt. Jemand muß seine Hand in die Maschine stecken und sie sich abreißen lassen, wenn die Räder wieder einrasten sollen. Jemand muß das ohne Hoffnung auf Belohnung, ohne Ansehen der fünfzehn Francs tun. Jemand, dessen Brust so schmal ist, daß ein Orden ihn bucklig machen würde. Und jemand muß Essen in eine hungernde Pritsche stopfen, ohne die Furcht, es ihr wieder herauszustoßen. Sonst geht dieses Schauspiel ewig weiter. Sonst gibt es keinen Weg aus dieser Wirrnis …
Nachdem ich eine ganze Woche lang dem Chef den Arsch geleckt hatte – wie man es hier so tun muß –, gelang es mir, Peckovers Posten zu bekommen. Er starb tatsächlich, der arme Teufel, ein paar Stunden, nachdem er auf dem Boden des Schachtes aufgeschlagen war. Ganz wie ich voraussagte, bereiteten sie ihm eine schöne Beerdigung, mit feierlicher Messe, großen Kränzen und allem. Tout compris . Und nach den Feierlichkeiten taten sich die Burschen von der oberen Abteilung in einem bistro gütlich. Es war zu schade, daß Peckover nicht auch ein bißchen hatte mithalten können – er hätte es so genossen, bei den Leuten von oben zu sitzen und seinen Namen so oft erwähnt zu hören.
Ich muß es hier gleich sagen, daß ich mich über nichts zu beschweren habe. Es ist, als sei man in einem Irrenhaus, mit der Erlaubnis, für den Rest seines Lebens zu onanieren. Die Welt wird mir auf den Schreibtisch gelegt, und man verlangt von mir nur, daß ich die Katastrophen herauspicke. Es gibt nichts, in was diese glatten Jungens von oben nicht ihre Nase stecken: keine Freude, kein Elend bleibt unbemerkt. Sie leben mit den harten Tatsachen des Lebens, in der Wirklichkeit, wie man so sagt. Es ist die Wirklichkeit eines Sumpfes, und sie sind die Frösche, die nichts Besseres zu tun wissen, als zu quaken. Je mehr sie quaken, desto wirklicher wird das Leben. Rechtsanwälte, Priester, Ärzte, Politiker, Journalisten – das sind Quacksalber, die ihren Finger am Puls der Welt haben. Eine dauernde Atmosphäre des Unheils. Es ist wunderbar. Es ist, als ändere sich das Barometer nie, als sei die Flagge ständig auf halbmast. Man kann jetzt sehen, wie die Vorstellung des Himmels im menschlichen Bewußtsein Wurzel faßt, wie sie Boden gewinnt, auch wenn alle Stützen unter ihr weggeschlagen wurden. Es muß noch eine andere Welt geben außer diesem Sumpf, in den alles kunterbunt hineingeworfen ist. Es ist schwer, sich vorzustellen, wie dieser Himmel wohl aussehen mag, den der Mensch sich erträumt. Ein Froschhimmel, ohne Zweifel. Miasma, Schlamm, Seerosen, stehendes Wasser. Ungestört auf einem großen Seerosenblatt sitzen und den ganzen Tag quaken. So etwa stelle ich mir das vor.
Diese Katastrophen, die ich in Korrektur lese, haben eine wunderbar heilende Wirkung auf mich.
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