Wendland & Adrian 01 - Schattenwölfe
Traum wie in der vergangenen Nacht gehabt. Darin hatte sie sich selbst oben auf dem Dachsberg stehen sehen, im Traum hatte sie sofort gewußt, daß es nur der Dachsberg sein konnte. Dort hatte sie eine Art Ritual ausgeführt, getrocknete Krauter verbrannt, den Rauch in die vier Himmelsrichtungen gefächert und ein Dankgebet gesprochen.
Am nächsten Morgen war sie wie in Trance herumgelaufen, hatte geradezu neben sich selbst gestanden, als sie in Deutschland anrief, um Dr. Wegmeier zuzusagen, und in Vancouver, um Professor Henderson abzusagen. Danach hatte sie sich selbst kopfschüttelnd gefragt: Was mache ich denn da? Ich gehe wirklich zurück?
Durch die mysteriösen Träume ihrer Kindheit, an die sie sich kaum noch erinnerte, war ein großer, schöner Wolf gegeistert. Aber ich bin heute nicht mehr das wilde Mädchen, das mit den Tieren spricht, dachte sie. Ich bin nicht mehr die verrückte Außenseiterin, diese Zeit ist lange vorbei.
Auf der Tribüne drängten sich zwei Schulklassen. Chris grüßte mit einem Kopfnicken, schloß das Tor auf und schob die Karre ins Gehege. Seltsam, daß noch gar keine Wölfe zwischen den Bäumen auftauchten. Während sie die Fleischbrocken aufspießte, fragte sie sich, warum sie wohl immer wieder vom Dachsberg träumte. Sie warf einen Blick hinüber zur bewaldeten Flanke des Berges. Voll Unbehagen erinnerte sich Chris an das unheimliche Erlebnis, das sie kurz nach ihrer Rückkehr aus Kanada dort oben gehabt hatte. Sie hatte ein Buch über die Kelten gelesen, das letzte Volk, das in der Eifel eine Naturreligion praktiziert hatte, und war zu den auf der Buchfelder Wanderkarte eingezeichneten keltischen Kultplätzen spaziert. Als sie an einem windigen Morgen unter zerrissenen, von Westen her über die Eifel jagenden Wolken bei den Hügelgräbern, aus denen der keltische Schmuck im Heimatmuseum stammte, auf dem Dachsberg gestanden hatte, überkam sie ein beunruhigendes Gefühl des Déjà-vu.
Und – etwas wollte mit ihr sprechen. Etwas, das in ihr zu sein schien und zugleich außerhalb von ihr. Dieses Etwas hatte eine Botschaft, drang aber nicht bis zu Chris durch. Es war, als versuchten unsichtbare Hände vergeblich eine Art Tür in Chris’ Geist aufzustoßen, doch es gelang ihnen nicht, sosehr sie auch an der Tür rüttelten.
In Panik war Chris davongerannt, den Weg durch den Itzwald hinunter, bis endlich das alte Forsthaus vor ihr aufgetaucht war. Seither machte sie bei ihren Streifzügen einen großen Bogen um den Dachsberg.
Sie hatte mit niemandem über dieses Erlebnis zu sprechen gewagt, wie sie als junges Mädchen nach dem Tod ihrer Mutter mit niemandem über ihre verrückten Träume und Erlebnisse gesprochen hatte, aus Angst, in eine Anstalt gesperrt zu werden. Bis sie Jonas begegnet war, mit dem sie über alles hatte reden können. Chris schob die Erinnerung an das Etwas auf dem Dachsberg ganz weit von sich, verriegelte das Tor wieder und stieg zu den Kindern auf die Tribüne. „Hallo“, sagte sie. Die Kinder begrüßten sie mit Gejohle. „Wo sind denn eure Wölfe?“ fragte ein Junge mit einer roten Baseball-Mütze auf dem Kopf.
„Die sind schon ganz hungrig auf das Fleisch, das ich ihnen gebracht habe, und kommen es sich jetzt holen“, sagte Chris lächelnd. Sie begann ihren Vortrag. Die Kinder waren neugierig und stellten pfiffige Zwischenfragen. Weil sie sich ganz auf ihr Publikum konzentrierte, schaute sie gar nicht ins Gehege hinunter.
„Toll, was Sie da alles über die Wölfe erzählen“, sagte der Junge mit der Baseball-Mütze plötzlich ziemlich vorlaut, „aber wir wollen sie auch gerne sehen !“
Chris verstummte und blickte irritiert nach unten. Die Fleischbrocken lagen, von Fliegen umschwärmt, im Gras. Unberührt. So angestrengt Chris auch zwischen die Bäume spähte, sie entdeckte keinen einzigen Wolf. Das war… unerklärlich. „Sie… sie kommen bestimmt gleich. Ihr werdet sehen.“ Chris schluckte nervös. Sie spürte wieder diese Unruhe, genau wie gestern bei dem Vorfall mit dem großen, rothaarigen Mann, eine hilflose Unruhe angesichts eines Geschehens, das eigentlich undenkbar war. Die Kinder fingen an zu maulen. Sie mußte etwas tun, um die Situation zu retten.
„Ich weiß etwas, worauf die Wölfe ganz bestimmt reagieren“, sagte sie, legte den Kopf in den Nacken und heulte, schön und schaurig. Chris war stolz auf ihr Heulen. Die Wölfe antworteten normalerweise immer darauf, die Parkwölfe ebenso wie die kanadischen Wölfe. Chris
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